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Abraham Lincoln - Vampirjäger

Abraham Lincoln - Vampirjäger

Titel: Abraham Lincoln - Vampirjäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seth Grahame-Smith
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des Weißen Hauses auf die emporragenden Säulen des südlichen Portikus zu – wo an klaren Frühlingsnachmittagen wie diesem der Präsident oft höchstpersönlich auf dem Balkon der zweiten Etage gesichtet wurde. Der Mann ging eiligen Schrittes und trug einen kleinen, ledernen Aktenkoffer bei sich. Der Gesetzesentwurf, aus dem der Secret Service hervorgehen würde, lag an jenem Mittwochabend vor Abraham Lincoln auf dem Schreibtisch und würde dort sein restliches Leben lang bleiben.
    Um drei Minuten vor vier betrat der Mann das Gebäude und nannte einem Butler seinen Namen. »Joshua Speed. Ich wünsche den Präsidenten zu sprechen.«
    Ein Leben voll Krieg hatte von Abe letztendlich seinen Tribut gefordert. Seit Willies Tod hatte er sich zunehmend geschwächt gefühlt. Betrübt und unsicher. Die Falten in seinem Gesicht waren tiefer geworden, und die Tränensäcke unter den Augen ließen ihn immer erschöpft aussehen. Mary war fast die ganze Zeit niedergeschlagen, und die raren Momente der Leichtigkeit verbrachte sie mit rauschhaften Anfällen von Dekorationswut oder mit Séancen, um mit ihren geliebten Söhnen Eddy und Willie zu »kommunizieren«. Sie und Abe wechselten über einfache Höflichkeiten hinaus kaum noch ein Wort. Irgendwann zwischen dem 3. und dem 5. April, während seiner Reise flussabwärts, um die gefallene Stadt Richmond zu inspizieren, notierte er folgendes Gedicht an den Rand seines Tagebuchs:
    Melancholie,
    mein alter Gefährte
    besucht mich häufig
    dieser Tage.
    Da er dringend Abwechslung und Gesellschaft brauchte, hatte Abe seinen alten Freund und Jagdgenossen eingeladen, eine Nacht im Weißen Haus zu verbringen. Als er von Speeds Eintreffen unterrichtet wurde, zog sich Abe höflich aus einer Konferenz zurück und eilte in die Empfangshalle. Nach dem Tod des Präsidenten, in einem Brief an den befreundeten Vampirjäger William Seward, erinnerte sich Speed an diese Begegnung mit Abe.
    Der Präsident legte mir die Hand auf die Schulter und verharrte einen Moment so, während sich unsere Blicke trafen. Ich glaube, er erkannte in meinen Augen Überraschung und Traurigkeit, denn als ich ihn genau betrachtete, sah ich eine Gebrechlichkeit, die mir an ihm noch nie zuvor aufgefallen war. Verschwunden war der breitschultrige Riese, der mit einem sauberen Axthieb einen Vampir zerhacken konnte. Verschwunden waren die lächelnden Augen, das selbstsichere Auftreten. An ihre Stelle war ein gebeugter, hagerer Mann getreten, dessen Haut eine ungesunde Blässe angenommen hatte und dessen Züge einem Mann zu gehören schienen, der zwanzig Jahre älter wirkte, als er tatsächlich war. »Mein lieber Speed«, sagte er und umarmte mich.
    Die beiden Vampirjäger aßen allein zu Abend, da Mary sich mit Kopfschmerzen ins Bett zurückgezogen hatte. Nach dem Essen begaben sie sich in Abes Arbeitszimmer, wo sie bis in die frühen Morgenstunden verweilten, miteinander lachten und in Erinnerungen schwelgten, als befänden sie sich wieder über dem Laden in Springfield. Sie unterhielten sich über ihre Tage als Vampirjäger, über den Krieg und über die Gerüchte, dass die Vampire in Scharen aus Amerika flohen. Aber die meiste Zeit unterhielten sie sich über ganz allgemeine Dinge: ihre Familien, ihre Geschäfte oder das Wunder der Fotografie.
    Es war genauso, wie ich es mir erhofft hatte. Meine Kümmernisse waren weit entfernt, und meine Gedanken flossen ruhig dahin. Und ich spürte mein altes Selbst wieder – wenn auch nur für ein paar flüchtige Stunden.
    Irgendwann weit nach Mitternacht, nachdem Abe seinen Freund mit seinem unerschöpflichen Anekdotenschatz amüsiert hatte, erzählte er ihm von einem Traum. Einem Traum, der ihn tagelang in Unruhe versetzt hatte. In einem seiner letzten Tagebucheinträge hielt ihn Abe für die Nachwelt fest:
    Um mich herum herrschte Totenstille. Dann hörte ich ein unterdrücktes Schluchzen, als würden etliche Leute weinen. Ich verließ mein Bett und ging nach unten. Auch dort wurde die Stille von demselben herzzerreißenden Schluchzen durchbrochen, aber die Trauernden blieben unsichtbar. Ich ging von Zimmer zu Zimmer; keine Menschenseele war zu sehen, aber dieselben Klagelaute verfolgten mich während meines gesamten Rundgangs … Ich war ratlos und beunruhigt. Was hatte das alles nur zu bedeuten? Ich ging weiter, bis ich zum Ostraum kam, den ich betrat. Dort erwartete mich eine schreckliche Überraschung. Vor mir sah ich einen Katafalk, auf dem eine Leiche im Totengewand

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