Abraxmata
Je weiter sie sich vom Mondschattenwald entfernte, umso befremdlicher und umso unheimlicher wurde ihr alles. Ein Gefühl des Schwindels überkam sie, alles drehte sich, es wurde ihr schwarz vor Augen und ganz furchtbar schlecht. Sie konnte keinen Gedanken mehr fassen, ihre Situation machte sie fertig.
Als Hevea wieder zu sich kam, lag sie mit dem Rücken auf dem Boden.
»Ist … alles in Ordnung? Du siehst nicht gerade danach aus.« Hevea fuhr herum und sah in die tiefblauen Augen eines Azillos. Der Anblick eines vertrauten Wesens machte ihr etwas Mut.
»Was suchst du hier im verbotenen Teil des Waldes?«, fragte der Azillo neugierig weiter.
»Ich … ich habe jemanden gesucht, der mir etwas über die seltsamen Wesen erzählen kann, die hier unter der Erde, ich meine unter dem Bodenbewuchs leben«, antwortete Hevea.
Der Azillo lachte. »Ach, du hast Bekanntschaft mit den Santorinen gemacht. Von den anderen Bewohnern des Morgentauwaldes meidet sie jeder. Wir verstehen sie nicht und sie verstehen uns nicht. Santorinen tauchen niemals an der Oberfläche auf. Ich glaube, sie sind sehr scheue Wesen. Einige im Morgentauwald, die ihre Neugierde nicht besiegen konnten, sind in ihr Areal eingedrungen und nie wieder zurückgekehrt. Deshalb wissen wir auch so wenig über die Santorinen. Na ja, sie interessieren uns auch nicht. Wir haben andere Probleme. Das Reich der Wälder steht kurz vor einem Krieg. Mit dem Fall des Mondschattenwaldes werden auch die anderen vier Wälder und Kismet fallen. Alle Hoffnungen sind jetzt auf einen jungen Azillo gerichtet, Abraxmata. Aber das wirst du ja selbst alles wissen. Soll ich dich noch zur Gilkohöhle begleiten?« Erst jetzt sah der Azillo Heveas versteinertes Gesicht. Sie sah aus, als wäre sie gerade dem Tod persönlich begegnet.
»Ich muss hinunter zu den Santorinen. Ich muss Murus und Chamor befreien«, sagte sie und wirkte dabei mehr als abwesend.
Der Azillo schien zu begreifen. Vorsichtig legte er ihr seine Hand auf die Schulter, um sie aus ihrer Trance zu reißen. »Du solltest nicht alleine gehen«, sagte er. »Wenn du möchtest, dann begleite ich dich.«
Hevea sah ihn misstrauisch an. »Vertraue niemandem. Hörst du niemandem«, schallte es ihr unerträglich durch den Kopf.
»Mein Name ist übrigens Araton. Ich möchte nur helfen. Die Geschöpfe der Wälder müssen zusammenhalten«, versuchte der Azillo Heveas Vertrauen zu gewinnen.
Hevea flog auf. »Komm mit«, sagte sie und drehte sich dann noch einmal um. »Ich heiße Hevea«, sagte sie.
»Du kannst ruhig schon vorausfliegen, ich kenne den Eingang zum Reich der Santorinen«, rief Araton ihr nach. Hevea blickte ihn verwundert an. »Na ja, ich gehöre auch eher zum neugierigen Volk«, lächelte er verschmitzt.
Hevea blieb trotzdem immer auf seiner Höhe. Zu zweit erschien es ihr sicherer. »Was verwendet ihr im Morgentauwald, um Nachrichten zu verschicken?«, fragte ihn Hevea.
»Ich habe mir doch gleich gedacht, dass du nicht aus dem Morgentauwald stammst«, sagte Araton und schien wirklich nicht sonderlich überrascht zu sein. Er fühlte Heveas Blick, die immer noch auf eine Antwort wartete. »Wir verwenden Jamorablätter. Sie sind deutlich kleiner als die Heinekinblätter des Mondschattenwaldes und an den Rändern gezackt. Aber der Hauptbestandteil wächst wie bei euch am Wohnort der Gilkos. Allerdings sind die Jamorapflanzen am Boden wachsende Schlingpflanzen, die die Höhle der Gilkos überwuchern.«
Hevea musste einen Moment in der Luft stehen bleiben, um sich wieder zu fangen. »Woher …?« Sie konnte ihre Frage nicht zu Ende stellen, weil die Antwort sofort aus Araton heraussprudelte.
»Ich habe doch gesagt, ich bin neugierig. Gilkos gibt es nur im Morgentau- und im Mondschattenwald, also war es klar, dass du von dort stammst.«
»Willst du damit andeuten, dass du alle fünf Wälder kennst?«, fragte Hevea ungläubig.
»Ich habe alle schon besucht. Je weiter man nach Osten kommt, umso seltsamer sind die Geschöpfe und umso undurchdringlicher ist die Vegetation … Aber dafür ist es auch spannender«, schmunzelte er. »Am meisten liebe ich den Wald der Mitternachtssonne.
Es ist der am östlichsten von allen gelegene.« Araton bemerkte, dass Heveas Augen aufgeregt strahlten. Er hatte es geschafft, sie für kurze Zeit von allem abzulenken. »Erinnere mich daran, dass ich dir bei Gelegenheit von den Wäldern erzähle. Vielleicht können wir den ein oder anderen auch noch zusammen besuchen, wenn die Zeit
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