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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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mich umzudrehen, sehe ihn aber im Rückspiegel an. Dieser Blick schafft die künstliche Distanz, die ich brauche.
    Seine Haare sind noch immer kurz geschnitten und sehr dunkel und so dezent von grauen Strähnen durchzogen, dass es kaum auffällt. Leichte Geheimratsecken. Die fleischigen Züge, die früher die scharf hervortretenden Wangenknochen und den kantigen Unterkiefer abrundeten, sind verschwunden. Die Haut scheint sich straffer um sein Gesicht zu spannen, was ihm eine härtere Ausstrahlung verleiht.
    Ich weiß, dass es unvernünftig ist, ihn auf diese Weise zu betrachten. Ich sollte es wirklich besser sein lassen, aber ich kann nicht leugnen, dass Marius zu der auserwählten Gruppe von Männern gehört, die mit den Jahren immer attraktiver und interessanter werden.
    Noch immer scheint er großen Wert auf Körperpflege zu legen, das kann ich sehen und riechen. Frisch duftendes Shampoo. Glatt rasiert. Gebleichte Zähne, helles Zahnfleisch.
    Ich löse mich von seinem Blick und starre stattdessen das grüne Landrover-Logo auf dem Lenkrad an.
    Cool bleiben, Claire.
    Die Stille dauert insgesamt noch keine halbe Minute, aber meinem Gefühl nach zieht sie sich viel länger hin. Ich bemerke, dass er mich mit demselben Interesse mustert wie ich ihn und ebenfalls Vergleiche zieht: Claire damals und heute.
    Ich wünsche mir, dass sein Urteil positiv ausfällt, und gleichzeitig hasse ich mich dafür, dass ich so denke. Es ist verrückt. Ich behalte die Hände auf dem Schoß und bohre meine manikürten Fingernägel tief in die Handflächen.
    Dann mache ich mir wieder bewusst, wer er ist und wer ich bin und wie es kommt, dass wir jetzt hier zusammen in meinem Auto sitzen, am Ende eines Feldwegs, keine fünfzehn Kilometer Luftlinie von meinem Zuhause entfernt. »Warum hast du mir Chris auf den Hals gehetzt?«
    »Es hat sich so ergeben.«
    »Er hat mich bedroht.«
    »Ach, das meint er nicht so.«
    »Von wegen, das meint er nicht so!«, fauche ich ihn an. »Chris ist ein Psychopath! Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte Reddy getötet!«
    Marius zieht eine Augenbraue hoch und runzelt die Stirn. » Ready? «
    »Reddy. Unsere Katze. Sie ist hochträchtig, verdammt noch mal! Das war sie jedenfalls, denn er …«
    »Ach so, eine Katze …« Marius schüttelt abfällig den Kopf. Dann lässt er das Fenster ein Stück herunter und zündet sich eine Filterzigarette an. Der Rauch zieht sofort durch den ganzen Innenraum.
    »In diesem Auto wird nicht geraucht«, sage ich schnippisch.
    »Jetzt schon.«
    »Verdammt, Marius! Wie soll ich den Gestank den Kindern erklären, oder Harald?«
    Es ist Jahre her, dass ich laut geflucht habe. Unter dem sozialen Druck der Strenggläubigen in dieser Gegend habe ich schnell gelernt, meine Wortwahl den hiesigen Gepflogenheiten anzupassen. Marius gegenüber gebrauche ich dagegen ein Schimpfwort nach dem anderen, als hätte ich nie auf der Insel gewohnt.
    »Jetzt reg dich doch nicht so auf.« Er lässt das Fenster ganz herunter und hält die Zigarette am gestreckten Arm ins Freie. Trotzdem wallen Rauchschwaden herein. »Chris hält sich übrigens schon lange nicht mehr in den Niederlanden auf.«
    »Was heißt hier ›schon lange‹? Gestern hat er noch bei uns im Stall gestanden!«
    Marius schweigt. Dann sagt er ganz langsam: »Ich dachte, wir hätten eine feste Beziehung gehabt, Claire. Das habe ich wirklich geglaubt.«
    »Darüber haben wir nie geredet.«
    »Du hast nie darüber geredet. Ich schon. Und hör auf, über Chris zu meckern.«
    Ich drehe mich um und umklammere die Kopfstütze. »Chris hat einen Dachschaden! Das weißt du genauso gut wie ich. Urplötzlich hat er im Stall vor meiner Nase gestanden, unsere Katze gequält und eine brennende Kippe ins Heu geschmissen! Er hätte uns weiß Gott was antun können!«
    Während meiner Tirade wandert mein Blick unwillkürlich über seine Gestalt. Marius ist immer gut in Form gewesen, aber jetzt sieht er geradezu umwerfend aus. Szenen aus amerikanischen Fernsehserien schießen mir durch den Kopf, Bilder von Gefangenen, die auf einem Innenhof den ganzen Tag mit Gewichten trainieren und ihre betonharten Muskeln noch stärker ausformen. Offenbar gab es im Osloer Gefängnis ebenfalls solche Trainingsmöglichkeiten.
    Langsam wandern seine Mundwinkel hoch, und die Fältchen um seine Augen vertiefen sich. Er steckt seine Zigarette zwischen die Lippen und blinzelt amüsiert.
    Mit einem Ruck drehe ich mich um und lasse mich wieder auf den Fahrersitz

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