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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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versuchte, meinen Fehler durch Selbststudium zu kompensieren, und wählte meine eigene Richtung. Abend für Abend vergrub ich mich in meine Bücher, las über historische Architektur und Baugeschichte. Außerdem vertiefte ich mich in Themen wie die Lebens- und Arbeitsweise der Menschen vor 1900, hauptsächlich im siebzehnten, dem »Goldenen« Jahrhundert. Dadurch konnte ich die damaligen Bautechniken und -materialien in den richtigen Kontext einordnen. Das Selbststudium ermöglichte es mir, sehr zielgerichtet zu lernen. Ich nahm mir die Zeit, alles, was mich faszinierte, bis ins Detail zu erforschen. Ich besuchte Museen, rief manchmal auf gut Glück bei den Bewohnern bestimmter Häuser an und erhielt überraschend oft begeisterte Führungen; ich sprach mit Fachleuten, scheute mich nicht, Fragen zu stellen, und merkte nach einiger Zeit, dass ich als Gesprächspartner immer ernster genommen wurde.
    Anschließend absolvierte ich auf Drängen meines Vaters eine Maklerausbildung, die ich mit durchschnittlichen Noten abschloss. Danach stellte mein Vater mich ein.
    Bis heute frage ich mich regelmäßig, ob er das nur deswegen getan hat, weil er sich durch unser Verwandtschaftsverhältnis dazu verpflichtet fühlte. Doch nie brachte ich den nötigen Mut auf, ihn danach zu fragen. Er starb ein knappes Jahr, bevor ich Claire kennenlernte. Seine Sekretärin fand ihn tot an seinem Schreibtisch. Herzstillstand, wie sich später herausstellte. Mein Vater starb in Erfüllung seiner Pflicht.
    Mich ließ er mit einer Firma und vierzehn Angestellten, Schuldgefühlen und vielen unbeantworteten Fragen zurück.

19
    Seitdem Chris dort seine gebräunte Verbrechervisage hat sehen lassen, vermittelt mir die Grundschule »De Klimop« ein ganz anderes Gefühl. Vorher bin ich immer gerne dorthin gegangen – »leichten Herzens«, wie meine Mutter sagen würde. Aber von Leichtherzigkeit kann keine Rede mehr sein. Chris hat meine frühere Sorglosigkeit ein für alle Mal zerstört.
    »De Klimop« ist die einzige Grundschule weit und breit, eine moderne, gemütliche Schule für an die zweihundert Kinder. Vom Sehen kenne ich sie fast alle, da ich regelmäßig als Aushilfsmutter einspringe. Von Anfang an habe ich mich an dieser kleinen Dorfschule geborgen, ja zu Hause gefühlt.
    In all den Jahren, in denen ich Fleur und Charlotte der Fürsorge von Lehrerinnen, Praktikantinnen und helfenden Eltern überließ, bin ich keine Sekunde lang auf die Idee gekommen, dass sie dort nicht sicher sein könnten.
    Jetzt bin ich jeden Tag aufs Neue erleichtert, wenn ich meine Töchter unversehrt über den Schulhof zum Tor laufen sehe.
    Dafür hasse ich diesen Scheißkerl.
    Ich hoffe, Marius hat die Wahrheit gesagt: dass Chris ihm nur einen Freundschaftsdienst erweisen wollte und sich inzwischen tatsächlich im Ausland aufhält.
    »Komm schnell, Schatz, gib mir schon mal deine Sportsachen.« Ich greife nach Fleurs Tasche und öffne die hintere Tür.
    Charlotte klettert hinter ihrer Schwester ins Auto, aber Fleur will ihr keinen Platz machen. Wahrscheinlich will sie wieder in der Mitte sitzen. Das will sie immer, dabei weiß sie genau, dass der Sicherheitsgurt in der Mitte schon seit einer Weile kaputt ist.
    »Komm schon, Fleur, rutsch durch, stell dich nicht so an. Deine Schwester muss auch noch rein.«
    »Geht aber nicht!«, erwidert sie.
    »Warum nicht?« Jemand ruft meinen Namen. Ich blicke auf und sehe die Mutter von Sam und Sanne auf dem Fahrrad vorbeifahren.
    »Schönes Wetter, was?«, ruft sie. »Jetzt hat der Sommer richtig angefangen.«
    Ich nicke ihr freundlich zu, streiche eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wende mich wieder meinen Töchtern zu. Charlotte hängt immer noch halb aus dem Auto.
    »Allmählich reicht es mir, Fleur!«
    »Aber Mama! Ich kriege diese blöde Tasche hier nicht weg!«
    »Die Tasche?«
    »Diese … blöde … Tasche …!«, stößt sie atemlos und wütend hervor.
    Ich blicke an Charlotte vorbei zu Fleur. Sie hält den schwarzen Henkel einer Tasche in der Hand, die ich nicht kenne.
    »Hände weg!«, rufe ich.
    Fleur und Charlotte erstarren und sehen mich erschrocken an.
    »Steigt noch mal aus«, sage ich schließlich. »Ich hole die Tasche raus, okay? Dann habt ihr beide mehr Platz.«
    Murrend kriechen Charlotte und Fleur wieder aus dem Wagen und stellen sich neben mich auf den Bürgersteig. Mein Entsetzen entgeht ihnen größtenteils, vielleicht sogar völlig. Gott sei Dank.
    Es handelt sich um eine mittelgroße Sporttasche, in

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