Abscheu
besucht habe. Ich hätte dir wenigstens einen Brief schreiben und dir alles erklären können. Das hätte ich tun sollen, aber es ist mir zu schwer gefallen. Es war leichter, einfach …«
»So zu tun, als existiere ich nicht mehr.«
Ich starre auf den Asphalt vor meinem Wagen. »Damals hat Chris gesagt, man hätte dich zu fünfzehn Jahren verurteilt. Das ist eine lange Zeit, Marius. Ich war schließlich erst zweiundzwanzig.«
»Und jetzt?«
»Jetzt habe ich Kinder, trage Verantwortung. Ich werde zu Hause gebraucht. Ich bin … Ich bin einfach richtig glücklich. Es ist schade, dass es so ge –«
»Schade!« Er schnippt die Zigarettenkippe weg und schließt das Fenster.
Ich blicke nach links und sehe, wie die Kippe auf dem Asphalt nachglüht. Dann rollt sie an den Straßenrand und bleibt auf dem harten Lehmstreifen liegen. Die Kippe erinnert mich an Chris, und wieder kocht die Wut in mir hoch. »Deine Stunde ist beinahe um«, bemerke ich so kühl wie möglich.
»Schon okay. Dann fahr jetzt mal zurück.«
Ich unterdrücke einen Seufzer der Erleichterung, lasse den Motor an und biege wieder auf die Hauptstraße ab.
Nur noch ein paar Minuten, denke ich, dann steigt er aus meinem Auto und verschwindet aus meinem Leben, für immer. Dann nehme ich die Fähre zur Insel und schmeiße unterwegs das Dreckshandy über die Reling, da, wo der Fluss am tiefsten ist.
Dann bin ich frei. Dann ist es wirklich vorüber.
Aus und vorbei.
Wir wechseln kein Wort mehr, bis ich mit laufendem Motor an der Stelle halte, wo Marius vorhin eingestiegen ist.
Wieder suche ich im Rückspiegel Blickkontakt zu ihm.
Er sieht mich auf unergründliche Art an und steigt dann aus. Stellt sich neben das Auto und gibt mir mit einer befehlenden Kopfbewegung zu verstehen, dass ich das Fenster hinunterlassen soll.
Ich gehorche. Auf der Straße ist kein Mensch zu sehen, und auch an den Fenstern zeigen sich keine neugierigen Gesichter. Wenn er einen Abschiedskuss will, beschließe ich spontan, kann er ihn haben. Aber dann muss er gehen. Und versprechen, nie, nie mehr wiederzukommen.
Er beugt sich nach vorn und packt mich am Unterarm. Er umklammert mein Handgelenk und nähert sein Gesicht meiner Wange. »Trag dein Handy immer schön bei dir, Muschi. Ich ruf dich bald wieder an.«
Vier
An meine Mutter habe ich mir leider zu wenige Erinnerungen bewahrt. Sie war immer da, als stille Unterstützung im Hintergrund für meinen Vater und mich, ihr einziges Kind. Sie hätte gern eine ganze Kinderschar geboren, aber ihr Körper spielte nicht mit. Obwohl darüber nie ausdrücklich gesprochen wurde, vermute ich, dass sie sowohl vor als auch nach meiner Geburt Fehlgeburten erlitten hat. Ich war der Fötus, der es schaffte, einer, der allen schlechten Chancen zum Trotz stark genug wurde, gesund zur Welt kam und meine Eltern hätte stolz machen müssen. Doch ich bezweifle, dass mir das gelungen ist.
Als ich achtzehn war, musste meine Mutter ins Krankenhaus. Sie hatte irgendwelche Probleme mit der Gebärmutter; sie sollte entfernt werden. Der Chirurg erklärte, es sei eine Routineoperation und wir bräuchten uns keinerlei Sorgen zu machen. Also fuhr ich wie geplant ins Segellager, in der festen Überzeugung, dass meine Mutter bei meiner Rückkehr zu Hause sein würde. Doch die diensthabende Schwester vergaß, ihr eine Thrombosespritze zu geben.
Es gibt Tage, an denen ich nicht daran denke. Die Zeit heile alle Wunden, heißt es manchmal. Aber das sind nur leere Worte. Ich glaube nicht, dass ich den Tod meiner Mutter je verwunden habe.
Ich besuchte die Abschlussklasse, als es geschah. Ich stürzte mich ins Lernen und begann ein Jahr später mein Propädeutikum für Architektur in Eindhoven. Dort lernte ich vor allem eines, nämlich dass Neubauten mich depressiv machten. Dass ich mich nicht im Geringsten für moderne Architektur und die Erfindung neuer Bautechniken interessierte. Dass Konstruktionen aus Stahl und Glas Widerwillen in mir auslösten und geschlossene Klimaanlagensysteme noch viel mehr. Das Fach Immobilienverwaltung interessierte mich ebenfalls nur mäßig, während mich als angehenden Makler gerade dieses Thema am meisten hätte fesseln müssen.
Ich habe mein Studium nach zwei Semestern abgebrochen und war damit der erste van Santfoort ohne akademischen Grad. Obwohl es mein Vater nie offen aussprach, standen ihm sein Missfallen und seine Enttäuschung ins Gesicht geschrieben und schwangen in jedem Wort mit, das er von da an mit mir sprach.
Ich
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