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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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unterhalb des Marktplatzes. Zu tief, als dass man von ihnen aus das alte Zentrum sehen könnte. Man erkennt höchstens die kleine weiße Brücke und die umliegenden Häuser, die am Hafen entlang quer zum Fluss erbaut wurden: eines wie das andere märchenhafte Gebäude mit orangefarbenen Dachziegeln, breiten weißen Dachumrahmungen, dunkelgrünen Türen und weißen Sprossenfenstern.
    Am Kai sind ungefähr zwanzig Boote vertäut. Die Holzschaluppen kommen als Marius-Boote schon mal nicht infrage, ebenso wie die kleinen Segelboote und das rostige Kajütboot. Damit bleiben sechs Motoryachten übrig, von denen nur zwei so aussehen, als ob Marius an ihnen Gefallen finden könnte: aggressiv wirkende, nautische Bügeleisen mit dunkel getönten Fenstern. Die anderen scheinen mir nicht sein Stil zu sein, aber dann fällt mir ein, dass er erzählt hat, die Yacht sei nur geliehen.
    Die Hände auf dem Schoß gefaltet, betrachte ich die Boote, eines nach dem anderen. Marius ist nirgends zu sehen, und ich weiß nicht recht, was ich jetzt anfangen soll. Ich ziehe das Handy aus der Tasche. Der Akku ist voll. Keine verpassten Anrufe, keine SMS. Es ist fünf nach halb zehn.
    Soll ich ihn anrufen? Nein.
    Ich stecke das Handy wieder ein und stehe auf. Das Gesicht so gut es geht vom Markt abgewendet, gehe ich zu der Steintreppe, die hinunter zum Hafen führt. Vorsichtig steige ich die Stufen hinunter und gelange auf den Kopfsteinpflasterkai. Unsicher bleibe ich stehen.
    Ein Ehepaar um die sechzig in blau-weiß gestreiften Hemden ist eifrig mit einem Ablegemanöver beschäftigt. Sie verständigen sich durch Zurufe, und der Motor ihres kleinen Segelbootes stottert und spuckt Rauchwolken aus.
    Langsam spaziere ich an den vertäuten Booten entlang. Auf der ersten Motoryacht sind die Gardinen vor den Fenstern nachlässig zugezogen, und man hat den Eindruck, als hätte sich schon seit Monaten niemand mehr um das Boot gekümmert. Auf dem Deck des Nachbarbootes, einer schwarzen Motoryacht mit Holzaufbau, schlummert ein kleiner Jagdhund in der Morgensonne. Er blickt mich durch leicht zusammengekniffene Augenlider an. Die Kajütentür steht weit offen. Ich rieche Kaffee und höre irgendwo im Inneren leise ein Radio dudeln. In der Kajüte bewegt sich etwas. Ein glatzköpfiger Mann mit einem dichten Rauschebart telefoniert gerade und kratzt sich dabei ungeniert im Schritt.
    Ich setze meinen Weg fort. Auf Motorboot Nummer drei sind die Gardinen zugezogen. Die Yacht daneben liegt ebenso wie die übrigen seitlich am Kai. Ich kann unmöglich erkennen, ob sich jemand darauf aufhält, denn die schmalen Fenster sind verdunkelt. Auch die Fenster des fünften Bootes lassen keinen Blick in das Innere der Kajüte zu. Die letzte Motoryacht liegt ganz hinten in der Nähe der Ziehbrücke. Als ich mich nähere, meine ich, Bewegung darauf zu erkennen, aber es war nur eine Abdeckplane, die leicht im Wind hin und her flattert.
    In der Manteltasche umklammere ich mit verschwitzter Hand das Telefon. Warum ruft Marius mich nicht an? Wenn er sich auf einem dieser Boote aufhält, muss er mich sehen können. Wieder ziehe ich das Handy aus der Tasche und betrachte das Display. Fast zehn vor zehn.
    Was soll ich tun? Soll ich weiter hin- und herlaufen, bis er mich bemerkt und mir ein Zeichen gibt? Dann wird mich über kurz oder lang jemand ansprechen und mich fragen, wen oder was ich hier suche. Viel länger kann ich hier unmöglich herumlungern.
    Das Motorknattern klingt lauter als gerade eben noch. Das ältere Ehepaar steht auf dem Achterdeck seines kleinen Segelbootes. Der Mast liegt flach über der Kajüte. Vorsichtig schippern sie unter der Brücke hindurch in Richtung des Flusses.
    Ich steige die Steintreppe wieder hinauf und setze mich auf die kleine Bank, das Marius-Handy in den feuchten Händen.
    Vielleicht ist ihm etwas dazwischengekommen. Vielleicht musste er plötzlich weg und hat meine Nummer verloren, sodass er mir nicht Bescheid sagen konnte.
    Vielleicht ist er wütend, weil ich seinen Befehl missachtet habe, und rächt sich jetzt gnadenlos, indem er nichts von sich hören lässt.
    Drei Minuten vor zehn. Ich stehe auf und laufe mit den Händen in den Taschen und gesenktem Kopf zurück zu dem Weg, der an der Stadtmauer entlangführt.
    Ohne einem Bekannten begegnet zu sein, erreiche ich den Parkstreifen und setze mich in mein Auto. Ich ziehe das Halstuch ab und befreie meine Haare aus dem geflochtenen Zopf. Dann kämme ich es mit den Fingern durch und stecke es

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