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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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ihm.« Ich stand auf, zupfte mein Dekolleté in Form und stolzierte geradewegs auf ihn zu.
    »Du hast dich verändert«, sagte er.
    »Vielen Dank.«
    »Dahinten auf der Bank hast du ausgesehen wie eine zerzauste Stadtstreicherin.«
    Schon nach wenigen Augenblicken hat er mich wieder auf die Palme gebracht, als wären nicht zehn Jahre vergangen, sondern nur ein Tag. Am liebsten würde ich mich umdrehen und ihn anschreien, aber der Schauder, der mir über den Rücken läuft, ist nicht nur ein Zeichen meiner Wut und Frustration. Daher halte ich mich zurück.
    Er hat sich verändert. Er sieht älter aus, aber nicht weniger attraktiv. Die Lachfältchen um seine Augen, damals nur oberflächlich und kaum sichtbar, haben sich tiefer eingegraben und fächern zu seinen Schläfen hin auf. Die Schatten um seine Augen sind dunkler geworden, wodurch seine Iris in einem noch helleren Blau erstrahlt, fast schon silbergrau. Seine Lippen sind unverändert. Noch immer liegt dieses ewige Lächeln darauf wie eingefroren. Marius hat mir einmal erzählt, dass er mit einer leichten Abweichung seiner Oberlippe geboren wurde. Sie wurde in seiner Jugend korrigiert, aber nicht sorgfältig genug.
    Ich reiße meinen Blick vom Rückspiegel los. Das Auto steht am Rand der kleinen Stadt. Ich kann das Risiko nicht eingehen, von einem Bekannten mit einem fremden Mann auf dem Rücksitz gesehen zu werden.
    »Wir müssen uns anderswo unterhalten«, sage ich.
    »In Ordnung. Fahr irgendwohin. Ich habe Zeit.«
    Zeit. Ich werfe einen raschen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. Zehn nach zehn. Die Schule ist um Viertel nach zwölf aus. »Du hast eine Stunde.«
    »Genau wie früher«, erwidert er lachend. Dann fügt er halb scherzhaft, halb im Ernst hinzu: »Gilt auch noch derselbe Tarif?«
    Meine Finger umklammern den Zündschlüssel wie eingefroren, und unwillkürlich warte ich darauf, dass er sich entschuldigt. Doch ich ernte nur eisiges Schweigen.
    Beleidigt lasse ich den Motor an, verlasse die alte Festungsstadt und fahre hinaus auf die ausgedehnten Felder. Mein Herz schlägt unruhig, und gereizt stelle ich fest, dass ich unkontrolliert handle. Zweimal gibt das Getriebe beim Schalten ein lautes, hysterisches Kreischen von sich. Jedes Mal erwarte ich eine Reaktion in Form einer beißenden Bemerkung oder leisem Lachen, aber es passiert nichts. Schweigend betrachtet mich Marius im Rückspiegel.
    Im Kreisverkehr passiere ich die Straße, die zur Fähre führt, und biege rechts ab in Richtung der flachen Polder. Rechts und links liegen Weiden, auf denen schwarzbunte Kühe grasen. Hier und da ragen Bauernhöfe auf, deren Zufahrtswege von Pappelalleen gesäumt werden oder die von dicht bewachsenen Knüppelzäunen umgeben sind. Über den blauen Himmel ziehen Schäfchenwolken.
    Ich werfe einen kurzen Blick in den Rückspiegel, suche seine Augen und starre dann wieder stur geradeaus. »Warum …« Meine Stimme klingt peinlich hoch, und ich räuspere mich ein paar Mal nervös. »Warum warst du nicht auf dem Boot?«
    »Ich habe es mir anders überlegt.«
    Unsinn. Er war schon früher ziemlich paranoid, und die jahrelange Gefangenschaft in einem norwegischen Gefängnis wird seinen Verfolgungswahn wohl kaum gemildert haben. »Noch immer auf der Hut also«, stelle ich fest und frage mich plötzlich, ob die ganze Sache mit dem Boot vielleicht gelogen war. Es würde mich nicht wundern.
    »Wie hast du mich gefunden?«
    »Wolltest du denn nicht gefunden werden?«
    Ausweichend antworte ich: »Ich habe noch mal ganz von vorne angefangen.«
    »Das ist mir durchaus klar.« Dann sagt er mit leicht gereizter Stimme: »Jetzt halt doch mal irgendwo an!«
    Ich blicke die Straße entlang, auf der Suche nach einem Seitenweg oder einer Einbuchtung. Eigentlich kenne ich diese Gegend sehr gut, aber irgendwie kommt mir plötzlich alles fremd und unbekannt vor. Mir wird bewusst, dass ich meine Umgebung durch die Augen von Marius sehe. Und ich glaube, dass er sein Urteil bereits gefällt hat. Langweilig. Bestimmt findet er es hier furchtbar langweilig. Marius ist ein Stadtmensch. Ausgedehnte Ebenen und Natur machen ihn nervös.
    »Ich habe dich etwas gefragt.«
    »Jetzt sei doch mal still«, erwidere ich. »Ich muss mich konzentrieren.« Ich biege in eine schmale Straße ein, die an einem Wäldchen entlangführt, und halte neben einem Strommast an, der wie ein armseliger Eiffelturm die Landschaft verunziert.
    Ich schalte den Motor aus, und sofort herrscht tiefe Stille. Ich wage es nicht,

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