Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
Vom Netzwerk:
sinken.
    »Chris ist heute Morgen nach Spanien geflogen«, höre ich ihn hinter mir sagen. »Der interessiert sich weder für dich noch für deine Katze. Er hat es für mich getan, weil er sich wegen des Schlamassels in Norwegen schuldig fühlte. Er wollte sich bei mir revanchieren.«
    Und ob Chris sich schuldig fühlen sollte, so, wie er seinem besten Freund damals mitgespielt hat, geht es mir durch den Kopf. »Indem er mir einen Heidenschrecken einjagt?«, frage ich.
    Ich höre, wie er tief an seiner Zigarette zieht. Der Rauch schwebt nach vorn und kringelt sich um mein Gesicht. »Es hat sich so ergeben.«
    »Was wollte er bei Ravelin, Marius? Ich hoffe nicht, dass er sich hier in der Gegend niederlassen will.«
    »Reg dich ab. Es ging ihm nicht ums Geschäft. Wir waren dir schon seit ein paar Wochen auf der Spur.« Erneut zieht Marius an seiner Zigarette und bläst den Rauch erregt aus dem Fenster. »Ich hatte nicht die Absicht, dir Angst einzujagen.«
    »Red kein Blech.«
    »Hör mal zu, Schatz. Vor zehn Jahren waren wir ein Paar. Stimmt’s?«
    Ich nicke schweigend.
    »Du kannst dir wahrscheinlich nicht einmal im Traum vorstellen, wie es ist, verhaftet zu werden und im Knast zu landen. Sei froh. Man ist völlig isoliert und verliert jedes Recht auf Selbstbestimmung. Am schlimmsten fand ich aber, dass du über Chris genau wusstest, wo ich eingesessen habe. Oder? Und auch, wie lange?«
    Wieder nicke ich verhalten.
    »Aber du hast nichts von dir hören lassen. Mir nicht mal eine Karte geschickt. Du verschwindest einfach und fängst ein neues Leben mit einem neuen Kerl an … Aus den Augen, aus dem Sinn.«
    »Du hast im Ausland im Knast gesessen«, antworte ich, als würde das alles erklären.
    »Ja, und?«
    »Mein Leben musste irgendwie weitergehen.«
    Er antwortet mit einer ärgerlichen Armbewegung. »Vielleicht bin ich ein Idiot, aber ich habe geglaubt, wir hätten eine Beziehung gehabt. Eine ganz … ganz besondere Beziehung.«
    »Hatten wir auch«, erwidere ich. »Aber es war eben auch …« Ich presse die Lippen zusammen und streiche nervös mit dem Daumen über meine Finger.
    Wie kann ich ausdrücken, was ich meine, ohne ihn zu verletzen, ihn womöglich sogar wütend zu machen? Will ich es überhaupt ausdrücken? Ist es wirklich nötig?
    In einem hat Marius recht: Wir hatten eine Beziehung. Allerdings wurde sein Leben zehn Jahre lang in einer norwegischen Zelle stillgelegt, während meines draußen weiterging. Und sich in eine ganz andere Richtung entwickelte. Wenn ich ihm einfach sagen würde, dass mir zehn Jahre Warten zu lange dauerten, muss er das doch verstehen.
    Andererseits könnte er es als Ermutigung auffassen. Er könnte Hoffnung schöpfen: Er hat seine Strafe abgesessen, und er hat mich gefunden. Wir könnten noch heute da weitermachen, wo wir aufgehört haben … O Gott, nein! Was soll ich sagen? Die Wahrheit? Dass ich mich verändert habe und auch, dass ich schon lange vor seiner Verhaftung wusste, dass unsere Beziehung keinen Bestand haben würde, egal, ob er seinen turbulenten Lebensstil fortsetzen würde oder nicht?
    Seine Gefängnisstrafe bedeutete meine Freiheit.
    »Bist du glücklich mit diesem Typen?«
    Ich nicke. »Ja.«
    »Wirklich?«
    »Ja, wirklich. Das brauchst du nicht infrage zu stellen.«
    »Ein guter Vater für deine Kinder«, bemerkt er hämisch. »Geld, Status … Ein guter Fang, wirklich, du durchtriebene Goldgräberin.«
    »Das hat damit nichts zu tun!«
    »Natürlich nicht!«, höhnt er. »Aber eine gewisse Rolle werden das Geld und das schöne Haus doch wohl gespielt haben. Bleibt nur die Frage: Ist das genug? Reicht dir das, Claire?«
    Bilde ich es mir nur ein, oder spüre ich wirklich ein Kribbeln im Nacken? Ich erstarre. Nein, ich irre mich nicht. Die Berührungen sind zart, ganz sanft, aber wie elektrisch geladen, sodass ich leicht erzittere. Ich wehre sie mit einer ruckartigen Schulterbewegung ab.
    Marius zieht die Hand zurück. »Schon gut, Muschi.« Dann fragt er mit rauer, fast brüchiger Stimme: »Ist es mit ihm so … genauso wie mit uns? Dir und mir?«
    Ich versuche zu schlucken, kann aber nicht. »War es das, was du wissen wolltest, Marius? Wolltest du mich deswegen sprechen? Um mich zu fragen, ob ich glücklich bin?«
    »Vielleicht.«
    »Ich bin jetzt glücklich. Sehr sogar.«
    »Ach, wirklich?«
    Ich will seine Fragen nicht beantworten und bin ihm auch keine Rechenschaft schuldig. Ohne ihn anzusehen, sage ich: »Es tut mir leid, dass ich dich in Oslo nicht

Weitere Kostenlose Bücher