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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Trägheit ist verschwunden. »Bleib hier, verdammt noch mal!«
    »Das entscheide ich selbst.«
    »Ich sage, du sollst hierbleiben!«
    Wie erstarrt bleibe ich an der Treppe stehen. Mein Gehirn rattert wie ein alter Computer. Wenn ich jetzt flüchte, sitze ich in einer knappen halben Stunde sicher neben Harald auf dem Sofa. Marius würde mich nicht verfolgen, das ist nicht sein Stil – aber er würde es auch garantiert nicht dabei bewenden lassen. Dafür ist er zu stolz.
    Ich kann nicht voraussehen, wie er reagieren würde, wenn er genügend Zeit hätte, alles auf sich einwirken zu lassen. Würde er Chris noch einmal vorbeischicken? Würde er Kontakt zu Harald aufnehmen?
    Aber wenn ich jetzt bleibe, gebe ich die Zügel ganz aus den Händen. Damit übertrage ich alle Macht an Marius und mache mich mit sofortiger Wirkung jederzeit für ihn verfügbar, Tag und Nacht.
    »Das kannst du nicht von mir verlangen.« Ich sehe ihm ins Gesicht und fahre fort: »Du verschwindest Knall auf Fall und forderst mich zehn Jahre später einfach zurück, als sei ich ein Haustier. Ich habe mir in der Zwischenzeit ein ganz neues Leben aufgebaut. Ich habe einen Mann und Kinder! Versteh doch, dass ich nicht mehr die bin, die du …«
    Marius steht auf. Neunzig Kilo Muskeln. In seinen Augen glimmt ein Feuer, und seine Kiefermuskeln sind angespannt. »Red keinen Scheiß! Komm her!«
    Ich zwinge mich, mich von seinem Blick loszureißen, drehe mich um und renne die kleine Treppe hinauf. Zwei, drei Stufen. Aus lauter Nervosität trete ich daneben und schramme mit dem Schienbein schmerzhaft über eine Kante. Zischend atme ich aus, und die Tränen treten mir in die Augen. Gehetzt stolpere ich weiter, sehe aber aus den Augenwinkeln heraus, dass Marius hinter mir her ist. Voller Panik greife ich nach der Klinke der kleinen Tür, die knapp außerhalb meiner Reichweite liegt.
    Plötzlich wird mir klar, dass mich eiskalte Angst gepackt hat.
    Nicht so sehr vor dem, was Marius tun wird, wenn ich gehe. Auch nicht vor Chris.
    Ich habe Angst vor mir selbst. Furchtbare Angst davor, noch länger mit Marius auf diesem Boot zu sein. Ich muss hier weg. Jetzt sofort.
    Marius packt mich an einem Bein. In blinder Panik trete ich nach ihm, mit aller Kraft, die ich aufbringen kann. Er blockt ab, schwankt aber. Ich trete noch einmal zu. Er weicht einen Schritt zurück, stolpert aber über seine herumliegenden Turnschuhe. Er fällt rückwärts um und schlägt seitlich mit dem Kopf auf der Küchenanrichte auf. Er stürzt auf den hellblauen Teppichboden und bleibt reglos liegen, die Arme am Körper angewinkelt, das Gesicht von mir abgewandt.
    Keuchend und zitternd stehe ich auf der Treppe und starre die Szene entsetzt an. Marius liegt da, in einer unbequemen Haltung. Er bewegt sich nicht.
    Atmet er noch? Blutet er? Ist er bewusstlos?
    Ich wage es nicht, hinzugehen und nachzusehen. In meiner überreizten Fantasie kann er jeden Moment aufspringen, mich in blinder Wut angreifen und mir das Genick brechen. Ich will jetzt nur noch weg, weg von Marius, weg vom Hafen. Nach Hause, auf die Insel, wo Harald und die Kinder auf mich warten und ich so tun kann, als sei das alles nur ein böser Traum gewesen.
    Ich stoße die kleine Tür und die darüberliegende Luke auf, gehe hinaus und schließe die Luke hinter mir. Unsicher und steif gehe ich zum Achtersteven und klettere auf den Anlegesteg. Mein Blick ist verschwommen, ich kann nicht klar sehen, und mir ist, als würde ich hin- und herschaukeln, als sei ich mit Helium gefüllt und schwebe über die Holzbretter.
    Auf einer der anderen Yachten steht ein Mann um die sechzig mit grauen Haaren und Schnäuzer. Er erweckt den Eindruck, als habe er mich schon die ganze Zeit beobachtet und suche den Kontakt zu mir.
    Ich drehe das Gesicht von ihm weg und laufe stur weiter.
    »Alles in Ordnung, Mevrouw?«, höre ich ihn fragen, als ich an ihm vorbeigehe.
    »Ja, alles okay«, erwidere ich mit unsicherem Lächeln, ohne ihn anzusehen oder innezuhalten. »Vielen Dank.« Mit schnellen Schritten laufe ich weiter, steige die Treppe zur Straße hinauf und eile zum Parkplatz. Dort ist niemand zu sehen. Ich steige in mein Auto, ziehe die Tür zu und betätige sofort die Zentralverriegelung.
    Ich schaffe es kaum, den Zündschlüssel ins Schloss zu stecken. Ich muss die rechte Hand mit der linken umfassen. Anschließend lege ich beide Hände ans Steuer und starre vor mich hin auf die Boote in dem kleinen Hafen. Auf der »Esmeralda« regt sich

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