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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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erscheint mir, dass er stinkwütend ist und auf Rache sinnt. Er könnte zum Beispiel unseren Stall anzünden lassen. Oder unser Haus. Oder er wendet sich an Harald und plaudert ein wenig aus dem Nähkästchen, und dann ist meine Ehe noch vor Charlottes sechstem Geburtstag Schnee von gestern.
    Denn ich glaube nicht, dass Harald mit der Schande leben könnte. Er würde mich wahrscheinlich nicht einmal mehr in seiner Nähe ertragen könnten. Und darüber, dass Harald Marius vielleicht nicht glauben würde, brauche ich mich keinen Illusionen hinzugeben: Marius kennt zahlreiche Einzelheiten. Viele davon sind klare Fakten, die Harald nachprüfen kann. Außerdem habe ich Harald über diese Phase meines Lebens nie viel erzählt und weiß, dass er sich so manche Frage stellt.
    Vorsichtig biege ich auf die befestigte Straße ab, die rund um das Schloss verläuft. Lehmklumpen poltern gegen die Radkästen, und meine Räder hinterlassen eine gelbliche Dreckspur auf dem Asphalt.
    Als wir nach Hause kommen, ist der Himmel noch immer grau, aber es regnet nicht mehr.
    »Du, Mama, fahren wir morgen wieder über den Sandweg zur Schule?«, fragt Fleur, während sie aus dem Auto springt.
    »Von mir aus, wenn es euch gefällt.«
    »Ja! Toll!«, ruft Charlotte. Die beiden Schwestern rennen los in Richtung Garten.
    Ich schließe die Tür, bleibe kurz stehen und mustere mein Auto. Die Räder sind verdreckt, die Radkästen mit Lehm verklebt. Sogar die Fenster und das Dach sind mit Lehmspritzern bedeckt.
    »Mama! Mama, komm mal schnell!«
    Erschrocken renne ich los und bin in Rekordzeit hinter dem Haus.
    Dort, vor den offen stehenden Türen, hocken Fleur und Charlotte auf der Terrasse. Sie betrachten etwas, das auf dem Boden liegt.
    »Ob er noch lebt?«, fragt Charlotte ihre ältere Schwester. Dann blickt sie in meine Richtung. »Mama! Komm mal! Guck mal, hier!«
    Auf der Terrasse liegt ein Vogel mit schwarzen Federn und einem harten, grauen Schnabel. Er liegt auf der Seite, reglos, mit toten, stumpfen Augen.
    »Ist er wirklich tot?«, fragt Fleur.
    »Ja, der ist tot«, bestätige ich. »Fasst ihn nicht an. Ihr könnt davon krank werden.«
    »Bist du sicher, Mama?«, fragt Fleur. »Dass er tot ist?«
    Ich starre den Vogel auf meiner Terrasse an. »Ja, ganz sicher.«
    »Woran siehst du das?«
    »Er bewegt sich nicht mehr.« Ich wühle meinen Schlüssel hervor und schließe die Hintertür auf. »Geht schon mal rein, dann bringe ich ihn weg.«
    Fleur und Charlotte gehen in die Küche, und ich höre, wie sie den Kühlschrank öffnen, um sich etwas zu trinken zu holen.
    Aus dem Regal im Wirtschaftsraum hole ich eine Plastiktüte vom Supermarkt und stecke die Hand hinein. Ich packe das Tier an einem Flügel und streife die Tüte um es herum. Während ich mit meiner unheimlichen Last zum Biomüll gehe, muss ich einen Schauder unterdrücken.
    Ich mag keine Krähen. Sie können nichts dafür, aber sie sind nun einmal das Symbol für Elend und Tod. Ich lasse den Vogel aus der Plastiktüte in den Biomüll fallen und werfe die Tüte in die graue Tonne daneben.
    Auf dem Rückweg gestehe ich mir ein, dass ich mir selbst gegenüber nicht ganz ehrlich war. Es gibt noch eine weitere mögliche Erklärung dafür, warum sich Marius nicht meldet. Aber die habe ich verdrängt, weil sie einfach zu furchtbar ist.

Sechs
    Claire ist vor acht Jahren in mein Leben getreten, in einer Zeit, in der ich ziemlich mit mir haderte, um es einmal milde auszudrücken. Die Tage schienen aus dickem, klebrigem Sirup zu bestehen, und ich schleppte mich ohne jede Begeisterung hindurch. Ob die Sonne schien oder es wie aus Eimern schüttete: Ich merkte es nicht einmal. Es war mir auch egal. Alles war gleich schwarz, düster und aussichtslos.
    Dass ich die Firma meines Vaters führen musste und diese Verantwortung sehr ernst nahm, hielt mich auf den Beinen. Ich kann getrost behaupten, dass ich ohne Ravelin Immobilien nicht mehr am Leben wäre. Ich hätte Schluss gemacht, an einem jener aussichtslosen Abende, an denen ich auf der Insel allein war und auf dem kalten Boden in der Scheune zwanghaft Mörtel und Schmutz von alten Steinen klopfte. Damit beschäftigte ich mich, bis meine Hände bluteten und ich mich durch die von unten hochziehende Kälte und die schmerzenden Muskeln kaum noch bewegen konnte.
    An solchen Abenden starrte ich oft hinauf zum Dach, zur Unterseite der Ziegel und den freiliegenden Balken und Spanten. Am mittleren Hahnenbalken, fünfeinhalb Meter über meinem Kopf,

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