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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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der Zimmer regelrecht zwischen mich und einen Freier zwängte, aggressiv und zugedröhnt mit Koks.
    Wir hörten auch Gerüchte über Clubs, bei denen an der Tür nicht so streng kontrolliert wurde wie bei uns. Mir war durchaus klar, dass ich es schlechter hätte treffen können.
    Aber ich stand ziemlich fest auf meinen hohen Absätzen, und meine größte Angst in den ersten Jahren war nicht etwa, an einen gestörten Kunden zu geraten, sondern einen Bekannten aus meinem normalen Leben zu treffen. Plötzlich einem alten Freund meines Vaters gegenüberzustehen. Oder meinem Nachbarn aus dem Vorstadtviertel, der mich immer so geil angaffte, wenn ich abends zur Arbeit ging. Oder dem Bäcker an der Ecke, dem Vater einer Freundin … Gelegentlich passierte das einem der anderen Mädchen, und es war immer eine äußerst peinliche Situation. Mir jedoch blieben dank eines rätselhaften Schutzengels oder durch pures Glück sowohl solche unangenehmen Begegnungen als auch durchgedrehte Kerle erspart.
    Ich habe vier Jahre lang in diesem Metier gearbeitet. Rückblickend muss ich feststellen, dass ich eine besondere Zeit erlebt habe, die ich nicht missen möchte. Ich habe ungeheuer viel über Menschen gelernt, über die Bedeutung und den Einfluss von Geld, über mich, über meinen Platz in der Welt, darüber, was ich im Leben will und was absolut nicht. Ich habe gelernt, zu hören, zu sehen und vor allem zu schweigen und vorauszudenken, die Menschen noch besser einzuschätzen, als ich es schon vorher konnte, und sie zugleich etwas weniger schnell zu verurteilen.
    Das einzig Traurige ist, dass ich über diese Periode nicht mit denjenigen reden kann, an denen mir am meisten liegt, nicht mit meiner Mutter und schon gar nicht mit Harald. Manchmal habe ich das Bedürfnis danach, vor allem, wenn es in den Nachrichten um Prostitution geht oder wenn Harald und ich einen Film sehen, in denen dieses Thema angeschnitten wird. Dann würde ich gerne die ein oder andere Bemerkung fallen lassen oder ganz nebenbei eine Anekdote einstreuen, so wie Harald es tut, wenn im Fernsehen über Bauprojekte oder alte Wohnviertel berichtet wird, denen der Niedergang droht. Doch gerade in solchen Momenten schweige ich ganz bewusst.
    Ich glaube nicht, dass Harald verstehen könnte, wie klar und deutlich ich die Trennlinie zwischen heute und damals vor mir sehe: Als ich anfing zu arbeiten, war ich knapp achtzehn, gerade erst »erwachsen«. Meine Mutter war die Einzige, die mir wirklich etwas bedeutete, und ich sah zu der Zeit keine andere Möglichkeit, ihr zu helfen. Jetzt bin ich zweiunddreißig, mit Harald verheiratet und selbst Mutter. Ich lebe ein vollkommen anderes Leben und treffe meine Entscheidungen auf der Basis ganz anderer Werte als damals. Die Menschen verändern sich nun einmal. Die Welt um uns verändert sich. Deswegen finde ich, dass Harald mir nicht verübeln kann, was ich vor so langer Zeit getan habe. Doch in Wirklichkeit vermute ich, dass für Harald eine Welt zusammenbrechen würde, wenn er von meiner Vergangenheit erführe. Ich glaube nicht, dass er den Gedanken ertragen könnte, dass es nicht nur ein paar Männer vor ihm gegeben hat, wie ich ihm vorgemacht habe, sondern Hunderte … Das würde er nicht verkraften, so vermute ich stark. Doch welcher Mann könnte das überhaupt?
    Sogar Marius war auf seine Art eifersüchtig und besitzergreifend.

23
    Die Stimme meines gesunden Menschenverstands erhebt sich so befehlend und laut, dass sie die Oberhand gewinnt.
    Marius hört diese Stimme nicht. Er nimmt nichts anderes wahr als sein eigenes Verlangen und geht unwillkürlich davon aus, dass ich ihm gehöre, wie früher, und dass die zehn Jahre seit damals kaum etwas verändert haben. Er hat meine Hand genommen und führt sie zu seinem Schritt.
    »Nein!« Abrupt reiße ich mich los und weiche zurück.
    Marius hebt langsam das Kinn und dreht sich halb zu mir um, eine Augenbraue hochgezogen. »Was soll das heißen, nein?«
    »Tut mir leid.« Es ist raus, ehe ich michs versehe. Ich hätte mir die Zunge abbeißen können! Er ist derjenige, der sich hätte entschuldigen müssen! Nicht ich.
    In Abwehrhaltung gehe ich rückwärts auf die kleine Treppe zu. »Ich muss weg«, erkläre ich schwer atmend und strauchele beinahe über einen seiner Turnschuhe.
    Marius starrt mich erstaunt an. »Claire? Hallo? Was soll das denn jetzt?«
    Ohne zu antworten eile ich zur Treppe.
    »Bist du total bescheuert?« Er scheint mit einem Schlag wach geworden zu sein. Seine

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