Abscheu
hing ein Strick. Ein schmutziger, ausgeblichener, orangefarbener Kunststoffstrick mit einer Schlinge am Ende. Der hatte schon da gehangen, als ich das Haus kaufte.
Er schwang im Wind, der durch die Ritzen pfiff, hin und her. Er winkte mir zu. Manchmal sah ich mich selbst dort hängen, friedlich schaukelnd, von allen Schmerzen, Erinnerungen und quälenden Gedanken befreit, und ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis man meine Leiche fand. Wer mich finden würde. Und ob mich jemand verstehen würde.
Die wichtigsten Gründe, die mich davon abhielten, hatten mit Ravelin und damit indirekt mit meinem Vater zu tun. Ich konnte Ravelin Immobilien nicht im Stich lassen. Die Firma war von einem van Santfoort gegründet worden, ich leitete sie in der dritten Generation, und nach mir würde niemand mehr da sein, um sie zu übernehmen.
Der zweite Grund war womöglich noch schwerwiegender: Selbstmord gilt in allen Kulturen und Ländern als schlimme Tat und wird oft verurteilt, aber besonders hier, in der Region, in der ich geboren bin, gilt sie als Todsünde. Ich hätte den Namen van Santfoort dadurch in den Dreck gezogen. Meine egoistische Tat hätte den guten Ruf meiner Familie zerstört. Nichts wäre mehr davon übrig geblieben. Mein Vater und mein Großvater hätten sich im Grab umgedreht.
Ich durfte sie nicht enttäuschen. Das hatte ich schon allzu oft getan.
In dem Jahr nach dem Tod meines Vaters verbrachte ich ungesund viel Zeit in der dunklen Scheune. Ganze Berge von alten Steinen habe ich von Kalk und Zement befreit, von Hand, mit Hammer und Beitel. Alte Tür- und Fensterrahmen habe ich geschliffen, bis die ursprüngliche Farbschicht wieder zum Vorschein kam. Schlösser habe ich mit minutiöser Genauigkeit von Rost und Graten befreit. Als ich dort inmitten der Sägespäne und des Gerümpels saß, hatte ich viel Zeit zum Nachdenken.
Vor allem über den Sinn des Lebens, aber öfter noch über die Sinnlosigkeit des Todes.
Durch den Tod meines Vaters wurde auch der meiner Mutter wieder präsent. Was ich jahrelang erfolgreich verdrängt hatte, stürmte jetzt im Nachhinein auf mich ein und ließ sich diesmal nicht mehr wegschieben. Die Gedanken an meine Mutter und die Trauer um den Verlust meiner Angehörigen stürzten mich immer tiefer in den Strudel zerstörerischer, negativer Grübeleien.
Doch irgendwann kam Claire und warf mir in diesem Strudel einen Rettungsring zu.
Claire weiß, wie schwer diese Zeit für mich war. Sie hatte selbst vor ein paar Jahren ihren Vater verloren, und auch ihrer war ein außergewöhnlicher Mann gewesen. Er sei viel gereist, erzählte sie mir, und kannte jedes europäische Land wie seine Westentasche. Sie sprach sehr liebevoll von ihm, und durch sie konnte ich mein Leben wieder aus einer positiveren Perspektive betrachten.
Ravelin und mein Verantwortungsbewusstsein haben mir durch die dunkelsten Zeiten geholfen, aber erst durch Claires Ankunft hat auf der Insel wieder die Sonne geschienen. Einige Wochen nachdem wir uns kennengelernt hatten, habe ich die Leiter genommen und den baumelnden Strick in der Scheune abgeschnitten.
Ich wollte nicht mehr an meine finsteren Gedanken erinnert werden.
25
Der Gedanke an Marius, der tot auf dem Boden seiner Yacht liegt, lässt mich inzwischen nicht mehr los. Den ganzen verregneten Mittwoch über konnte ich an nichts anderes denken. Auch wenn ich eine Meisterin im Verdrängen bin, ist diese Vorstellung zu schrecklich und zu nah, und die Konsequenzen sind zu weitreichend.
Während sich Fleur und Charlotte zusammen mit zwei Freundinnen aus dem Ort lautstark mit der Wii amüsieren, sitze ich am Küchentisch, schäle Kartoffeln und putze Gemüse. Jedenfalls tue ich so. Die meiste Zeit starre ich nämlich glasig vor mich hin, während vor meinem geistigen Auge immer der gleiche Film abläuft.
Marius lag wirklich ganz still da, als ich ihn zurückließ. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob er geatmet hat, ich habe einfach nicht darauf geachtet. Blut war nicht zu sehen, aber was heißt das schon? Es hat einen lauten Knall gegeben, als er mit der Schläfe auf die Kante der Anrichte auftraf, und ich habe einmal gehört, dass ein Schlag gegen die Schläfe tödlich sein kann.
Oder er war noch gar nicht tot gewesen, als ich ging und ihn seinem Schicksal überließ. Er war bewusstlos oder im Koma und ist gestorben, weil er keine medizinische Hilfe erhielt. Dann wäre ich schuld an seinem Tod.
Dann hätte ich ihn ermordet.
Das Handy steckt in der
Weitere Kostenlose Bücher