Abscheu
Tasche meiner langen Strickjacke. Alle halbe Stunde hole ich es heraus und sehe nach, ob er angerufen oder eine SMS geschickt hat. Ihn anzurufen, wage ich nicht. Wer weiß, was ich damit anrichte. Angenommen, er lebt noch und hat beschlossen, mich in Ruhe zu lassen? Dann würde ich mit meinem besorgten Anruf wieder sein Interesse wecken.
»Wo bist du gewesen, Claire?«
Vor Schreck zucke ich zusammen. Dann drehe ich mich um.
Harald steht in der Tür. Er hat eine Laptoptasche aus dem Büro mitgebracht, und sein Regenmantel hängt über seinem linken Arm. »Hast du etwa ein schlechtes Gewissen?«
Ich sehe ihn abwartend an, fast schuldbewusst. »Was willst du damit sagen?«
Hat Harald Gerda getroffen und erfahren, dass ich gestern gar nicht in der Schulbibliothek gewesen bin? Hat mich jemand im Hafen gesehen? Kennt der grauhaarige Mann mit dem Schnäuzer Harald?
Hat Harald mit Marius gesprochen?
»Ist irgendetwas?«
Ich schüttele unsicher den Kopf. »Nein, was … was soll denn sein?«
»Na ja, du verhältst dich irgendwie komisch.« Seine Stimme klingt freundlich und teilnahmsvoll, und sein Gesicht drückt aufrichtige Besorgnis aus.
»Entschuldige. Ich bin heute irgendwie zerstreut. Das liegt bestimmt am Wetter.«
Er stellt die Tasche ab, hängt den Regenmantel im Wirtschaftsraum auf und kommt auf mich zu. »Was hast du eigentlich mit deinem Auto angestellt?«
Ich hebe den Kopf und drücke ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. »Mit dem Auto?«
»Der Freelander sieht aus wie ein Traktor. Als hättest du dich damit im Schlamm gewälzt.«
Erleichtert erwidere ich: »Ach, das meinst du! Der Sandweg war eine einzige große Schlammpfütze. Das habe ich aber erst festgestellt, als ich schon nicht mehr zurückkonnte.«
Er runzelt die Stirn. »Der Sandweg? Seit wann fährst du da entlang?«
»Fleur und Charlotte hatten es sich schon seit Ewigkeiten gewünscht. Und wozu fahre ich schließlich einen Geländewagen?«
26
Ich lag schon im Bett und blätterte in einer Zeitschrift über Boote, als ich Marius kommen hörte. Das Motorgeräusch seines Mercedes unterschied sich so sehr von dem der anderen Autos im Viertel, dass ich es bereits erkannte, wenn er drei Straßen weiter in die Siedlung einbog.
Ich war müde, hatte den ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein im »Luxuria« gearbeitet und war froh, einmal ausspannen zu können. Dennoch sprang ich sofort auf und rannte die Treppe hinunter. Ich hörte das Geräusch abebben und dann wieder lauter werden und stellte mir vor, wie Marius sein silbergraues Schiff durch die schmalen, gewundenen Straßen steuerte, um zu mir zu kommen. Der Fußboden im Haus erbebte, als er den Wagen in den Carport fuhr. Er ließ den Motor laufen. Grelles Scheinwerferlicht schien hinein und erleuchtete unbarmherzig meinen Flur. Ich öffnete die Tür und musste die Augen zusammenkneifen, um etwas erkennen zu können.
Ich hegte schon seit einer ganzen Weile böse Vorahnungen. Marius war in den letzten Wochen nervös gewesen und regte sich wegen jeder Kleinigkeit auf. Ich dachte, er hätte vielleicht zu viel zu tun und die Arbeit wüchse ihm über den Kopf. Vielleicht liefen die Geschäfte nicht so, wie sie sollten. Oder er hatte zu viele Transaktionen zugleich angekurbelt und verlor allmählich den Überblick.
Ich fand es immer schwieriger, ihn zu beruhigen. Seine verspannten Muskeln unter meinen knetenden Händen zu lockern, bis er brummte und schnurrte wie eine große Katze. Danach verwandelte er sich nach und nach wieder in den entspannten Marius, in den ich mich Hals über Kopf verliebt hatte. Marius, der Unantastbare, der stets alles unter Kontrolle hatte.
Der Ausdruck in seinen Augen hatte sich verändert. Noch immer lag eine starke, fast magnetische Anziehungskraft darin, aber es kam mir vor, als sei er unkonzentrierter, sprunghafter, zerstreuter als sonst.
In den letzten Monaten hatte er mich nicht mehr täglich besucht und nur noch zwei-, dreimal die Woche bei mir übernachtet. Über andere Frauen machte ich mir keine Sorgen. In der Richtung brauchte ich nichts zu befürchten. So etwas spürt man – ich jedenfalls.
Es lag an seiner Arbeit. Er hatte Sorgen. Da war ich mir so gut wie sicher.
Irgendwo im Hinterkopf war ich mir stets bewusst gewesen, dass Marius’ Geschäfte eines Tages aus dem Ruder laufen könnten, und ich hatte durchaus einkalkuliert, dass ich dann auch mit hineingezogen würde. Doch mit etwas zu rechnen und dann damit konfrontiert zu werden – und
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