Abscheu
die Konsequenzen tragen zu müssen –, ist letztendlich doch etwas ganz anderes.
Obwohl Marius unverkennbar mit großen Problemen zu kämpfen hatte, sprach er mit keinem Wort darüber. Ich hatte keine Ahnung, was genau los war, und wenn ich ehrlich bin, wollte ich es auch lieber gar nicht wissen.
Marius stieg aus seinem Sportwagen aus, in jeder Hand eine prall gefüllte Supermarktplastiktüte. Er ging an mir vorbei und stellte sie an die Wand im Flur. Oben waren die Taschen, die dicken Kopfkissen glichen, mit Klebeband verschlossen. Ohne ein Wort zu sagen, kehrte er zum Auto zurück und holte zwei weitere volle Taschen, eine Plastiktüte und eine schwarze Puma-Sporttasche.
Er warf sie zu den anderen beiden auf den Boden. Der Motor des Autos grollte und brummte wie ein futuristischer Drache, und Auspuffgase wallten durch die offene Tür ins Haus.
Marius beugte sich nach vorn und küsste mich flüchtig auf die Wange. »Nimm fünfzehn für dich raus, Muschi«, sagte er über den Krach seines Autos hinweg. »Den Rest holt Chris morgen ab. Oder irgendwann diese Woche. Ich ruf dich an.«
»Marius, du weißt, dass ich …«
Er legte mir den Zeigefinger an die Lippen und zwinkerte mir zu. »Später. Wir sehen uns nach dem Wochenende.« Schließlich drückte er mir noch einen Kuss auf die Stirn und stieg wieder ins Auto. Unter viel Krach, Gestank und grellem Scheinwerferlicht fuhr er davon.
Schweigend blieb ich in der Tür stehen, die Arme um den Oberkörper geschlungen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite brannte noch Licht. Mevrouw van Doorn stand zwischen ihren Gardinen und starrte zu mir herüber. Ich verspürte den starken Drang, sie zu schockieren, durch eine obszöne Geste zum Beispiel, doch stattdessen zog ich die Taschen weiter in den Flur hinein und schloss die Tür.
Was ich damals noch nicht ahnen konnte, war, dass »später« tatsächlich »viel später« bedeuten würde. An diesem Tag sah ich Marius zum letzten Mal. Ich hatte keine Ahnung, dass er noch am selben Abend das Land verlassen würde.
Eine Woche nach seinem letzten Besuch sollte ich von Chris erfahren, dass die norwegische Küstenwache Marius verhaftet hatte und ihm eine lange Haftstrafe bevorstand.
27
»Harald kann doch ruhig mal auf die Kinder aufpassen? Ich rede von einem Wochenende, nicht von einer Nordpolexpedition«, stößt Natalie ein wenig keuchend hervor, begleitet vom leisen Quietschen eines Flaschenzugs. Im Hintergrund läuft stampfender Beat.
Ich sitze neben ihr, auf einem Gerät zum Training der Bauchmuskulatur. Ich überspringe die Übung. Stattdessen beobachte ich lustlos die Anstrengungen von Natalie, die sich heute auch nicht gerade vor Eifer überschlägt.
Mir ist schleierhaft, warum ich mich dazu habe überreden lassen, ins Fitnessstudio zu gehen. Ich habe noch Muskelkater im Rücken und in den Armen von der Gartenarbeit letzten Freitag. Normalerweise übernimmt Harald das Schneiden der Buchenhecke entlang der Auffahrt, oder wir überlassen es dem Gärtner, aber die Untätigkeit hat mich schier verrückt gemacht. Wirklich schwer war die Arbeit nicht, allerdings war es keine kleine Hecke, und man musste sich wahnsinnig konzentrieren. Ich war stundenlang beschäftigt, fühlte mich anschließend aber noch genauso rastlos wie zuvor.
Heute ist es sechs Tage her, dass ich Marius auf seinem Boot zurückgelassen habe.
Ob seine Leiche schon gefunden wurde? Ich weiß nicht mehr, ob ich die Kajütentür hinter mir geschlossen habe, ich kann mich nicht daran erinnern. Dagegen weiß ich sehr wohl, dass mein Steppmantel und der komische Hut an Bord geblieben sind. Kleidungsstücke, die bei einer Morduntersuchung auffallen würden, weil die Kombination nicht zu einem Mann wie Marius und einer Yacht wie der »Esmeralda« passt. Je länger ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher kommt es mir vor, dass schon längst jemand auf dem Boot gewesen ist, um nach dem Rechten zu sehen. Ein Yachthafen gleicht einem kleinen Dorf, selbst wenn die Anleger sich dort nur vorübergehend aufhalten. Sie passen genau auf, was auf den anderen Schiffen vor sich geht, und eine exklusive Yacht, die schon tagelang im Hafen dümpelt, ohne dass sich jemand darum kümmert, fällt automatisch auf.
Aber warum habe ich dann noch nichts darüber gehört? Es ist so gut wie undenkbar, dass wir auf der Insel noch nichts davon erfahren hätten, wenn im Hafen eine Leiche gefunden worden wäre.
Oder es verhält sich so, dass nur der Hafenmeister und die
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