Abscheu
– vielleicht ihre große und, wie ich hoffe, unerreichbare Liebe – tot aufgefunden hatte. Das habe ich sehr bedauert, denn ich betrachtete sie als eine Art Tante, aber ich konnte ihren Entschluss gut verstehen. Nach ihr ging auch Dick Overeem, worüber ich ganz und gar nicht traurig war. Im Gegenteil. Overeem war ein mürrischer, konventioneller Makler in ungefähr demselben Alter wie mein Vater. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals etwas Freundliches zu mir gesagt oder mich auch nur einmal angelächelt hat. Ich vermute, dass er nicht unter mir, dem unerfahrenen Sohn, arbeiten wollte und daher lieber aus freien Stücken gegangen ist.
Die übrigen Mitarbeiter, darunter Robertjan und Anton, blieben Ravelin Immobilien treu. Sie hielten die Firma auf Kurs, während ich wie gelähmt vor Trauer lange Zeit wenig handlungsfähig war. Wir waren ein tolles Team. Umso schwerer fiel es mir, einigen von ihnen in den letzten Jahren kündigen zu müssen. Aber ich hatte keine andere Wahl. Der Markt hat sich verändert, es gab einfach zu wenig Arbeit für sie. Diese Leute entlassen zu müssen, gehörte zu den schwierigsten Aufgaben, die ich je erfüllen musste.
Ich hätte so gerne mit Claire darüber geredet, und Gott weiß wie oft stand ich dicht davor, sie ins Vertrauen zu ziehen, aber dann habe ich doch immer wieder geschwiegen.
Auch jetzt, da die Lage wieder prekär zu werden droht, muss ich schweigen. Ich will meine Frau nicht beunruhigen. Das darf ich nicht. Das wäre rücksichtslos und egoistisch.
Außerdem befürchte ich, dass ich dadurch einen großen Teil meiner Attraktivität als Ehemann verlöre. Rein äußerlich ordne ich mich in die breite Durchschnittsmasse einigermaßen passabel aussehender Kerle ein. Weder besonders attraktiv noch unattraktiv. Im Bett befinde ich mich vermutlich in derselben Kategorie. Der Grund, aus dem eine solche Schönheit wie Claire beschlossen hat, mir ihr Leben zu widmen und mir zwei wundervolle Töchter zu schenken, kann nicht ausschließlich auf mein Aussehen und meine Qualitäten als Liebhaber zurückzuführen sein. Das glaube ich nicht, dafür bin ich zu realistisch, und sie ist zu intelligent.
Es ist das Gesamtbild, das sie schätzt. Hätte ich in einem Neubauviertel gewohnt und von einem durchschnittlichen Einkommen gelebt, hätte Claire mich nicht einmal beachtet.
28
Diese verdammten Pillen. Vlier hat sie mir ein bisschen zu bereitwillig verordnet. Ob sie nur geringe Mengen an Wirkstoffen enthalten? Oder sind es Placebos? Langsam vermute ich das. Ich wünschte, ich würde es wagen, mehr als zwei auf einmal zu nehmen, aber ich kann nicht ausschließen, dass die Tabletten durchaus wirksam sind und nur denjenigen nicht helfen, die vor Angst und Zorn halb verrückt werden und sich nach außen hin nichts davon anmerken lassen dürfen.
Ich drehe mich auf die Seite, mit dem Rücken zu Harald, ziehe ein zweites Kopfkissen heran und klemme es mir zwischen die Beine.
Am Rande meines Bewusstseins höre ich ein unbekanntes Geräusch. Erst scheint es von weit her zu kommen, vom anderen Ufer, weit hinter der Pferdeweide und dem verwilderten, sumpfigen Waldstück der Nachbarn. Es erinnert an den klagenden, nächtlichen Schrei einer Eule oder das Kreischen einer der vielen Möwen, die hier landeinwärts nisten.
Da ist das Geräusch wieder, jetzt eindeutiger, es schallt über das Wasser. Es ist nicht weit weg. Ich höre es jetzt sehr deutlich. Es kommt gar nicht von gegenüber. Es kommt selbst ganz aus der Nähe. Es sind keine Vogelrufe. Ein Pferd wiehert. Alarmierendes, panisches Wiehern. Humboldt .
Die Pferde machen sich sonst nie nachts bemerkbar. Jedenfalls nicht so. Ist irgendwo ein Hund ausgerissen, der sich bei den Ställen herumtreibt? Oder hat sich Humboldt vor einem umherschleichenden Fuchs erschreckt?
Das wäre das erste Mal.
Als plötzlich ein lauter Knall ertönt, bleibt mir vor Schreck fast das Herz stehen. Dieses Geräusch erkenne ich sofort. Eine der Stalltüren – Scheunentüren nennt Harald sie – hängt nicht richtig in den Angeln. Wenn man sie öffnet und nicht sofort dagegenhält, schlägt sie gegen die Außenwand. Ich bin mir sicher, dass ich sie heute Abend, nachdem ich die Pferde reingeholt hatte, abgeschlossen habe.
Mit weit offenen Augen starre ich in die Dunkelheit und lausche gespannt. Mein Atem geht schnell.
Ich kämpfe gegen den Impuls, Harald wachzurütteln, denn ich kann nicht ausschließen, dass da draußen jemand herumläuft, den ich kenne.
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