Abscheu
dem Nichts erscheinen Gestalten auf den Sitzen«, fahre ich fort. Dann senke ich den Kopf, suche die Stelle, an der ich stehen geblieben bin, und lege den Finger darauf. »Eine Person mit starrem, totem Blick in den Augen. Ein Zombie mit verfilztem, strähnigem Haar …«
Vorsichtig verlagere ich mein Gewicht. Marius bringt sich schon die ganze Nacht und den heutigen Tag über schmerzlich in Erinnerung. Ich versuche, das unangenehme Gefühl so gut es geht zu unterdrücken. »Neben ihm sitzt eine Frau im Arztkittel. Ihr Gesicht ist schwarz verbrannt, ihre Augen jedoch schneeweiß …«
Die Schüler gruseln sich sichtlich bei dieser Geistergeschichte für Kinder. Niemand sagt ein Wort, man könnte eine Stecknadel fallen hören. Sogar die frechsten Großmäuler der Klasse – Bas und Bert, alias Beavis & Butthead – verkneifen sich ihre Bemerkungen.
Es freut mich, dass es mir gelingt, die Aufmerksamkeit der Klasse zu fesseln, aber ich weiß, dass es vor allem an der Geschichte selbst liegt und weniger an der Art, wie ich heute vorlese.
Wieder suche ich nach dem letzten Satz, bei dem ich stehen geblieben bin. Ich muss kurz unterbrechen.
»Claire?«, fragt eine unsichere Stimme.
Ich hebe den Kopf. Susanna, die schon mehrmals zum Spielen bei uns zu Hause war, zeigt auf und fragt, ob sie zur Toilette darf.
»Ja, natürlich. Geh nur.«
Während ich den Faden der Geschichte wieder aufnehme, driften meine Gedanken zu Marius ab. Ich habe gestern völlig die Beherrschung verloren, die Regie lag ausschließlich bei Marius. Genau wie früher. Und dagegen hätte ich mich besser wappnen müssen.
Er war sowieso besser vorbereitet gewesen als ich. Unter anderem hat er an Kondome gedacht, was mir gar nicht in den Sinn gekommen war. Verrückterweise mache ich mir auch noch Gedanken darüber, wie ich diese Vorsichtsmaßnahme interpretieren soll. Hatte er Angst, dass ich schwanger werden oder dass er sich bei mir mit etwas anstecken könnte? Vielleicht beides.
Aber daran darf ich jetzt nicht mehr denken.
Marius hat mir sein Ehrenwort gegeben, mich nicht mehr zu belästigen. Ich glaube ihm, er klang ehrlich, und an seinen Augen habe ich erkannt, dass es nicht nur leere Worte waren.
Was mir noch eine Weile zu schaffen machen wird, sind die Spuren – die »Eindrücke«, wie er sagte –, die er körperlich bei mir hinterlassen hat. Doch ich weiß, dass sie von selbst abklingen und schließlich ganz verschwinden werden, ebenso wie die Erinnerung an ihn.
Ich muss mich auf die Zukunft konzentrieren, auf meine Familie und meine Mutter. Mit dem Bau des kleinen Hauses wird wahrscheinlich schon gleich nach den Sommerferien begonnen werden. Wenn alles gutgeht, kann Mama noch vor Weihnachten in ihr »Großmutterhäuschen« einziehen.
Selten habe ich Harald so fröhlich erlebt wie gestern Abend, und ich war auch froh – natürlich, mehr als froh, auch wenn meine Freude erheblich von dem frischen Abschied von Marius gedämpft wurde, diesem unterschwelligen, wunden Gefühl des Verlusts.
Harald hat nichts davon gemerkt. Ihm fehlt das Einfühlungsvermögen von Marius, um mich zu durchschauen. Mein Ehemann ist blind und arglos auf mein Theaterspiel hereingefallen, wie stümperhaft es gestern Abend auch gewesen sein mag. Er wollte unbedingt, dass ich meine Mutter gleich anrufe und ihr die wunderbare Neuigkeit erzähle. Ich möchte aber lieber damit bis zu dem Wochenende von Charlottes Geburtstag warten, wenn sie uns besuchen kommt.
Nächste Woche Freitag hole ich sie ab. Sie bleibt eine Woche.
36
Charlotte blickt mit feuchten Augen zu mir auf. Sie gibt alles, um wie eine niedliche Disney-Figur auszusehen, mit unwiderstehlichen, feuchten Augen und nach hinten gedrehten, demütigen Ohren, bei der einem spontan das Herz aufgeht und der man unmöglich etwas abschlagen kann. Eine wahre Glanzleistung. Sie ist ein Mädchen mit einer Mission.
»Gut«, sage ich schließlich. »Aber du darfst ihn nicht in die Schule anziehen. Nur zu Hause. Einverstanden?«
Sie nickt begeistert und dreht sich noch einmal vor dem Spiegel im Modegeschäft, sodass sich der Streifenrock aufbauscht. Es ist mit Abstand der hässlichste Rock, den ich je gesehen habe, und ich verstehe immer noch nicht, warum ich ihr überhaupt erlaubt habe, ihn anzuprobieren, aber Charlotte findet ihn wunderschön. Ein echter Prinzessinnenrock.
»Aber wirklich nur für zu Hause«, betone ich, als ich sie zurück zur Umkleidekabine führe. »Für die Kostümkiste.«
»Ja-haa.«
In der
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