Abscheu
kann.
34
Ich stehe auf der zweiten Stufe der Bootstreppe und habe die Arme um Marius’ Hals gelegt.
Seine Stirn ruht zwischen meinen Brüsten, und seine Hände sind unter meinem Mantel verschwunden. Sanft streichelt er über meinen unteren Rücken. »Ich werde dich vermissen«, flüstert er immer wieder. Seine Stimme dringt erstickt durch den Stoff meines Mantels. »Mein Gott, werde ich das vermissen.«
Unser erster Abschied war im Grunde kein richtiger Abschied gewesen. Von dem einen auf den anderen Tag wurden wir auseinandergerissen und sahen uns nicht mehr wieder. Anfangs fühlte ich mich deprimiert, leer und betäubt, aber mit der Zeit verblassten meine Erinnerungen. Mit jedem Monat, den ich ohne Marius in meiner neuen Umgebung verbrachte, wo ich neue Leute kennenlernte und neue Erfahrungen machte, brannten meine Gefühle für ihn allmählich herunter, bis nur ein winziges glühendes Fünkchen in der Asche übrig blieb. Nie hätte ich gedacht, dass es mit einer so alles verzehrenden Kraft wieder auflodern könne.
»Das weißt du doch, oder?« Er umfasst mit beiden Händen mein Gesicht und sieht mich an, so intensiv, dass es scheint, als blicke er mitten durch mich hindurch, als wühle er buchstäblich in meiner Seele herum, auf der Suche nach der Antwort, die er hören will, die ich ihm aber nicht geben kann.
Ich will auf keinen Fall anfangen zu weinen, aber meine Augen sind feucht, und ich musste schon dreimal schnüffeln, während wir fast reglos dastehen, in dem Versuch, diesen Moment so lange wie möglich auszudehnen. Ich wünschte, ich könnte in ihm verschwinden. Er in mir, ich in ihm. Wir beide, ineinander verkrochen.
Ich gebe keine Antwort. Ich bekomme kein Wort über die Lippen.
»Und?«, drängt er.
Alles ist wieder in mir aufgestiegen, mit unbezähmbarer Wucht. Eine Stunde mit Marius, und ich könnte schwören, dass ich nie ein anderes Leben geführt habe, dass er immer bei mir gewesen ist. Dass das achtjährige Intermezzo mit Harald schön und sehr sinnvoll gewesen ist, aber dass Marius wiedergekommen ist, um mich zurückzufordern, und ich nun einmal zu ihm gehöre.
Du hast eine Familie, schärfe ich mir ein. Ein ganzes Leben. Zwei Töchter und einen Mann, verdammt, du bist verheiratet!
Ich kann einfach nicht mehr klar denken durch diese überwältigende, verräterische Chemie, die unsere Körper und Seelen beherrscht.
»Natürlich«, antworte ich schließlich auf seine Frage. Meine Stimme klingt heiser und hoch, als sei ich wieder achtzehn und hätte die ganze Nacht auf einer Raverparty durchgefeiert. Ich kann nicht ausschließen, dass ich eben tatsächlich geschrien habe. Ich weiß es nicht mehr.
Ich kann ihn nicht länger ansehen. Ich lasse den Kopf auf seine betonharte Schulter sinken und klammere mich an ihm fest. »Gehst du nach Uganda?«
»Was ändert das schon?«
»Ich möchte, dass es dir gutgeht.«
Er schnaubt verächtlich. Nach kurzem Zögern sagt er: »Vermutlich werde ich gehen. Aber erst muss ich noch das Geld auftreiben, erinnerst du dich? Chris wird eine Menge Ärger kriegen, glaub mir … Dieser Lügner!« Er blickt mich an. »Aber ich schaffe das schon. Ich habe es immer geschafft … Claire?«
»Ja?«
»Versprich mir, dass du mich ausfindig machst und zu mir kommst, wenn du ihn je verlassen solltest, deinen Makler. Das passt schon irgendwie. Das mit dir und mir. Immer.« Zart streift er mit seinen Lippen über meine. »Versprichst du mir das, Muschi?«
Ich schlage die Augen nieder. Es fehlt nicht viel, und ich fange doch noch an zu weinen. Das muss ich unbedingt verhindern, denn wenn ich einmal anfange, kann ich womöglich nie mehr aufhören.
Wie konnte es mir nur in den Sinn kommen, ich könne Marius abhandeln wie einen namenlosen, gesichtslosen Kunden?
Langsam löse ich mich von ihm. »Ich muss gehen.«
» I know «, sagt er, grinst sein ewiges Grinsen und klopft mir ermunternd auf den Po. » Supergirls just fly. «
35
»Ein Mann mit gebrochenem Hals in einem schmutzigen Unterhemd. Auf seinen Knien liegt ein Beil. Daneben eine alte verhutzelte Frau, die ein Schlachtermesser in den zittrigen Händen hält. Allmählich füllen sich die leeren Plätze.« Ich schaue von dem Buch auf und werfe einen vielsagenden Blick in die Runde. Die sechste Klasse der Grundschule »De Klimop« sitzt atemlos da und starrt mich an. Normalerweise schwatzen mir die Kinder die Ohren vom Kopf, aber diesmal sitzen sie brav auf ihren Holzstühlen im Halbkreis um mich herum.
»Aus
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