Abscheu
einfach nicht mehr weiterschlafen. Heute Morgen wurde das Fenster allerdings schon mit Brettern zugenagelt, das haben sie also ganz ordentlich gemacht.«
»Wagst du dich abends immer noch nicht auf die Straße?«
Ich weiß, dass sie mich verstanden hat, aber sie gibt mir keine Antwort. Stattdessen wechselt sie abrupt das Thema: »Weißt du noch, als dein Vater mit dem DAF in Marokko war und wir zehn Grad Kälte hatten? Da habe ich dir auf der Straße das Schlittschuhlaufen beigebracht.«
»Natürlich weiß ich das noch. Das war hinter dem Haus. Jemand hatte Wasser auf den Bürgersteig gespritzt und eine Schlidderbahn angelegt.«
»Ja«, bestätigt sie trocken. »Und die Stadt hat am nächsten Tag Salz und Sand darauf gestreut. Deine Haare waren damals viel heller als jetzt, sehe ich. Fast weiß. Kannst du dich noch an unseren Urlaub in Torremolinos erinnern?«
»War das der Urlaub, in dem wir auf Eseln in die Berge geritten sind?«
»Ja, der. Du musst so sieben oder acht gewesen sein … Ich habe hier ein Foto, auf dem steht eine Jahreszahl: 1983. Dein Vater hatte damals diesen schrecklichen dünnen Schnurrbart. Das sah vielleicht blöd aus. Aber damals war das eben modern, tja.« Dann fährt sie etwas leiser fort: »Eine schöne Zeit war das. Als dein Vater noch gelebt hat. Ich habe schon manchmal daran zu knapsen, weißt du. Dass ich hier sitze und dass … Ach, was rede ich denn da! Jetzt jammere ich herum wie eine alte Schachtel, dabei habe ich mir so sehr vorgenommen, genau das nicht zu tun. Das liegt an den dummen Fotos.«
»Die sind nicht dumm. Ich bin froh, dass du sie noch hast. Aber lass dir Zeit mit dem Aussuchen, es sind ja noch ein paar Tage. Ich komme dich am Freitag abholen, am späten Nachmittag.«
»Um welche Uhrzeit?«
»So gegen fünf. Ich rufe dich an, wenn ich in der Stadt bin, einverstanden?«
Nach vielen Grüßen hin und her beende ich die Verbindung und stelle das Telefon zurück in die Station. Dann trinke ich einen Schluck von meinem Kaffee, der schon ein bisschen lau geworden ist. Es ist noch zu früh, um mit dem Kochen anzufangen. Gedankenlos ziehe ich eine von Haralds Zeitungen zu mir heran und schlage sie auf.
Meine Kaffeetasse ist fast leer, als ich halb lesend, halb die Bilder betrachtend auf Seite fünf angekommen bin, bei den Kurznachrichten aus dem Inland.
In der rechten Spalte ganz weit unten steht ein Artikel, der meine Aufmerksamkeit weckt. Ich springe von meinem Stuhl auf und lege eine Hand auf meine Brust.
Leiche eines Mannes aus Dordrecht
im Rotterdamer Hafen gefunden
Rotterdam – Am vergangenen Freitag hat ein Hafenarbeiter in einem Container im Rotterdamer Hafen die Leiche eines Mannes gefunden. Es handelt sich offenbar um den 42-jährigen Chris K. aus Dordrecht, einen unverheirateten Geschäftsmann mit Vorstrafenregister. Aus verlässlicher Quelle ist bekannt, dass die Leiche am ganzen Körper Spuren exzessiver Gewalt und am Kopf zwei Einschusslöcher aufwies. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit handelte es sich um eine Abrechnung in kriminellen Kreisen. Die Polizei wollte sich heute nicht dazu äußern, veröffentlichte aber die Identität des Opfers. Aufgrund der laufenden Ermittlungen können jedoch keine weiteren Angaben gemacht werden.
Ich muss den Artikel noch zweimal lesen, bis ich die ganze Tragweite dieser Information erfasse. Dann werde ich kreideweiß.
Ich überprüfe den Namen – vielleicht irre ich mich. Chris K. Hieß Chris tatsächlich Koops mit Nachnamen? Ja, da bin ich mir ganz sicher. Ebenso sicher bin ich mir, was sein Alter angeht. Chris ist zehn Jahre älter als ich. Das weiß ich deshalb so genau, weil er am gleichen Tag Geburtstag hatte wie ich, also am 30. August. Nachdem ich das erfahren hatte, hegte ich ein gesundes Misstrauen Horoskopen gegenüber.
Abrechnung.
»Ma-ma! Charlotte spielt dauernd mit der Fernbedienung rum!«
»Stimmt gar nicht! Aber du lässt mich nie … Lass los! Mama! Ma-ma!«
Im Kopf zwei Einschusslöcher.
Charlotte kommt kreischend in die Küche gerannt . Sie fasst mich am Arm.
Verdutzt blicke ich an mir hinunter, bemerke sie und sehe, dass ihr Gesicht rot angelaufen ist und ihr die Tränen über die Wangen laufen. Aber ich höre sie nicht, nicht wirklich , als gehörten sie und ihr Geschrei in eine Welt, die nicht die meine ist. Ihre hohe Stimme klingt wie aus weiter Ferne. Aus sehr, sehr weiter Ferne.
Ich stehe da wie zu Eis erstarrt und kann die Augen nicht von dem Artikel abwenden. Ich
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