Abscheu
Angst nicht unterdrücken, als er auf Seite fünf angekommen war. Chris ist noch vor Kurzem bei Ravelin gewesen. Marius zufolge war es ein einmaliger Besuch. Oder hat Harald Chris persönlich kennengelernt? Wenn ja, würde ich es gleich erfahren.
Harald las den Artikel und blätterte ungerührt weiter. Alles in Ordnung. Der Artikel beeindruckte ihn nicht mehr als ein Bericht über den bevorstehenden Vereinswechsel eines Fußballers. Für Harald ist Chris K. ein Nobody , nichts weiter als ein toter Krimineller, den er nicht kennt und nicht zu kennen braucht, weil er in einer Welt lebte, die nicht die seine ist.
Wie sollte Harald auch nur ahnen, dass seine eigene Frau diesen Kriminellen gut gekannt hat? Dass Chris K. von Seite fünf jahrelang Teil ihres Lebens gewesen ist? Und dass sie seinen mutmaßlichen Mörder gerade erst ganz, ganz, ganz dicht an sich herangelassen hat, näher, als er ihr selbst je gekommen ist? Schlimmer noch: dass es wahrscheinlich Claire van Santfoort gewesen ist, die das Todesurteil über Chris K. ausgesprochen hat?
Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein anderer Chris ermordet hat, erscheint mir sehr gering. Es kann nur Marius gewesen sein: Marius, der wissen wollte, wo Chris die Taschen mit dem Geld gelassen hat, dieselben Taschen, die er wenige Tage vor seiner Verhaftung mir zur Aufbewahrung übergeben hatte …
Was mich am meisten aus der Fassung bringt, ist aber nicht einmal so sehr Chris’ Tod, sondern die Vorstellung, dass Marius ein Mörder ist.
Marius ist imstande zu töten.
Er scheint sogar imstande zu sein, seinen besten Freund zu verhören, zu foltern und ihn zu …
Zwei Einschusslöcher im Kopf.
Ich schließe die Klappe der Spülmaschine und starre gedankenverloren nach draußen. Ob es regnet oder stürmt, sehe ich gar nicht.
Im Grunde habe ich den Menschen Marius immer verharmlost. Bewusst oder unbewusst habe ich mich auf seine guten Seiten konzentriert und ziemlich große Scheuklappen aufgesetzt, um nicht allzu viel von seiner Schattenseite mitzubekommen. Was Marius auch immer ausfressen mochte, wenn er nicht bei mir war, zumindest tötete er nicht oder war gewalttätig. Dachte ich zumindest. Er handelte mit Waren, die nicht ganz legal waren, und dabei beließ er es.
Natürlich wusste ich, dass merkwürdige Typen in diesen Kreisen verkehrten. Ich habe mich regelmäßig über Marius’ Entourage aufgeregt, aber irgendwann damit abgefunden, dass sie nun einmal dazugehörte wie Fliegen zu einem Pferdestall. Nie habe ich mich gefragt, warum er auch privat mit diesen zwielichtigen Gestalten umging. Psychopathische Mistkerle wie Chris oder die beiden kontaktscheuen, durchtrainierten Jungs, die ihn an dem Abend unserer ersten Begegnung ins »Luxuria« begleitet hatten. Ich habe der Wahrheit nie ins Auge sehen wollen, aber jetzt lässt sie sich nicht länger verdrängen.
Marius ist keine schnurrende Großkatze. Kein verwöhnter, etwas egozentrischer Junge in Männergestalt. Kein großer, gefährlich aussehender Kerl mit einem weichen Herzen.
Nein, Marius ist selbst so eine finstere Gestalt. Ein kaltblütiger, lebensgefährlicher Verbrecher, der über Leichen geht. Notfalls die seines besten Freundes.
Es beunruhigt mich mehr, als ich es in Worte fassen kann, dass ich meine Augen so lange davor verschließen wollte. Ich kann jetzt nur hoffen, dass er ein Mann ist, der sein Wort hält. Er hat es mir versprochen, ja, geschworen: Von jetzt an lasse ich dich in Ruhe.
Ich drehe mich von der Anrichte weg und reibe mir über Nase und Augen. Meine Finger zittern unkontrolliert.
38
Es ist zehn Jahre her, dass Marius mich auf der Schwelle meines Hauses zurückließ, eingenebelt von seinen Auspuffgasen und im Besitz vier prall gefüllter Taschen.
Ich schleppte sie in mein Wohnzimmer, drehte die Jalousien zu und pulte von einer Tüte das Klebeband ab. Sie war bis obenhin voller Banknoten. Nicht in ordentlichen, mit Papierstreifen zusammengehaltenen Stapeln, wie man sie in Fernsehkrimis sieht, sondern in zerknüllten und zusammengefalteten Scheinen, die anscheinend wahllos in die Tasche hineingestopft worden waren. Es waren Dollars, Zehner-, Zwanziger-, Fünfzigernoten. Seitdem bekannt geworden war, dass die Einführung des Euros nicht mehr lange auf sich warten lassen würde, mieden Marius und seine Geschäftspartner bestimmte Währungen, wie Chris mir irgendwann einmal erzählt hatte. Sie ahnten, dass es Schwierigkeiten beim Einwechseln größerer Mengen schwarzer Gulden und D-Mark
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