Abscheu
aus dem Schrank zu reißen und aus dem Fenster zu werfen, ordinär zu schimpfen und zu fluchen, sie an den Haaren zu packen und aus meinem Haus zu zerren, raus in den Garten, oder sie noch weiter wegzujagen, fort von der Insel. Ich hatte vor, sie anzuschreien, sie solle doch zu ihrem widerlichen Ex zurückgehen, diesem vulgären, abscheulichen, dreckigen, ordinären, blöden Zuhälter.
Das war mein erster Impuls.
Aber ich kam nicht weiter als bis zu meinem Auto, und darin blieb ich sitzen, beide Hände am Steuer, keuchend, Tränen der Wut, des Entsetzens und Kummers in den Augen. Und ich fing an, mir die Folgen auszumalen. Die weitreichenden, unwiderruflichen Folgen. Für alles und jeden.
Angefangen bei dem Schaden für Fleur und Charlotte, meinen lieben, hübschen Kuschelmädchen, die ich schon vermisse, wenn ich morgens die Tür hinter mir zuziehe – werden Kinder nicht fast immer der Mutter zugesprochen? Ich sah frustrierende, stundenlange Sitzungen in Anwaltskanzleien und Stapel von Rechnungen voraus. Tauziehen um das Sorgerecht. Umgangsregelungen. Alimente. Und laut, sehr laut über all das juristische Brimborium hinweg würde das Dorftamtam ertönen, das alles überlagernde Gesumm der Gerüchte und der allgemeinen Schadenfreude. Diese Schande, die feixenden Gesichter!
Hast du schon gehört? Die van Santfoorts lassen sich scheiden.
Ach, wirklich? Und warum?
Du wirst es nicht glauben, aber ich kann dir sagen …
… Ha, ha, das ist doch nicht dein Ernst, oder?
Nein. Ich konnte nicht nach Hause fahren. Unter keinen Umständen. Ich war zu aufgewühlt, um auf vernünftige Art und Weise mit der Situation umzugehen. Ich konnte mir kein dummes, undurchdachtes, von Wut und Zorn getriebenes Verhalten erlauben. Ich würde garantiert ausflippen, wenn Claire mich auch nur noch ein einziges Mal anlügen oder ein Wort zu viel sagen oder auch nur brav nicken oder einen falschen Tonfall anschlagen würde.
Von welcher Seite ich es auch betrachtete: Von dem Moment an, in dem ich sie damit konfrontierte, würde nichts mehr so sein wie zuvor. Claire würde mich verlassen, die Mädchen mitnehmen und mich allein zurücklassen. Vielleicht würde sie bei Natalie oder Gerda unterschlüpfen, und dann würde alles herauskommen.
Solange ich aber so täte, als sei alles in Ordnung, könnte alles normal weitergehen, und ich hätte die ganze Angelegenheit unter Kontrolle. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken. Darüber, wie ich am besten aus dieser Misere herauskommen, wie ich mir alle Möglichkeiten offen halten konnte. Es musste einen Ausweg geben, eine Taktik, mit der ich den Schaden so weit wie möglich begrenzen konnte.
Ich fuhr auf die Autobahn und einfach geradeaus vor mich hin, bis ich wie von selbst die Hauptstadt erreichte, einen bizarren Ameisenhaufen auf Pfählen voller Verrückter und Touristen, wo ich niemanden kenne und mich niemand kennt. Ein idealer Zufluchtsort.
Ich lasse mich vom Bett rollen und öffne die Minibar, in der winzige Fläschchen mit alkoholischen Getränken stehen. Kaum der Mühe wert, sie zu öffnen. Nichts qualitativ Hochwertiges, nur ein Red Label und ähnlicher Fusel. Ich stehe auf und greife nach dem Telefon auf dem Schreibtisch. Wähle die Neun.
»Zimmerservice, guten Abend.«
»Van Santfoort, Zimmer sechsundsechzig. Könnten Sie mir eine Flasche Jameson oder Tullamore Dew besorgen?«
»Auf Ihr Zimmer?«
»Ja, bitte.«
»Ich werde jemanden für Sie schicken, Meneer van Santfoort. Es könnte allerdings eine viertel bis halbe Stunde dauern.«
»Danke«, sage ich.
»Können wir sonst noch etwas für Sie tun?«
Ein kräftiges Seil, bitte. Und einen Hocker. »Nein, danke.«
Ich lege den Hörer auf und lasse mich rücklings auf das Hotelbett fallen. Ich starre die elfenbeinfarben gestrichene Balkendecke und den antiken Kronleuchter an. Drei Kristalle fehlen.
In diesem Hotel habe ich vor zwei Jahren einmal übernachtet, eine Etage tiefer, im Rahmen eines internationalen Maklerkongresses. Es ist ein relativ kleines Hotel in einem denkmalgeschützten Grachtenhaus, gezielt eingerichtet für Gäste mit einem besonders hohen Qualitätsanspruch: antike französische Möbel, reich gemusterte Gardinen, dicke Teppiche. Ich hatte erwartet, dass ich in dieser historischen Umgebung ein wenig zur Ruhe kommen würde, aber das Gegenteil ist der Fall.
Um die Wartezeit bis zur Ankunft des Zimmerservices zu überbrücken, nehme ich schließlich doch ein Fläschchen Red Label aus der Bar und schütte es
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