Abscheu
zusammenzuarbeiten, ist es eine Verbindung auf Gedeih und Verderb. Daher gilt Marius’ Ehrenwort einem Menschen gegenüber, den er liebt und schätzt, genauso viel wie ein unterschriebener Vertrag. Vielleicht sogar noch mehr.
Es sei denn, die betreffende Person gehört nicht zum inneren Kreis. Dann wird eiskalt gelogen, sogar mit der Hand auf dem Herzen. Betrachtet mich Marius noch immer als zu seinen Kreisen gehörig? Oder bin ich, ohne es zu ahnen, in seiner Vorstellung ins feindliche Lager übergelaufen? Gehöre ich jetzt zur Gegenpartei? Denn das würde jegliche Gemeinheit in seinen Augen rechtfertigen.
Im Dunkeln schüttele ich den Kopf. Nein. Er hat mich gern. Das habe ich in seinen Augen gelesen und vor allem: gefühlt.
Er hat versprochen, mich in Ruhe zu lassen.
Also wird er es auch tun.
Ich drehe mich um, schließe die Augen und hole einmal tief Luft. Plötzlich fällt mir noch eine ganz andere mögliche Erklärung für Haralds merkwürdiges Verhalten ein. Eine, die jeder anderen Frau in jeder anderen Ehe vielleicht als die naheliegendste in den Sinn gekommen wäre, an die ich jedoch – durch all die Aufregung um Chris und Marius – bisher noch keine Sekunde lang gedacht habe.
Geht Harald fremd? War sein verwirrtes, distanziertes Gestotter bei seinem Anruf heute Abend nichts weiter als eine ziemlich durchsichtige Ausrede, um eine Nacht mit seiner Geliebten verbringen zu können?
Ich denke ausgiebig über diese Möglichkeit nach, während ich dem gleichmäßigen Rauschen meines Blutes lausche. Dann sage ich mir, dass ich Harald nicht einmal Vorwürfe machen könnte, sollte er heute Nacht nicht in einem Hotel schlafen, sondern etwas anderes tun. Ich bin wohl die letzte Frau auf der Welt, die ihrem Mann einen Ehebruch verübeln könnte.
Im Gegenteil: Er hätte sogar das Recht dazu.
Zwölf
Ich fasse es nicht, dass ich mich hier herumtreibe. Was in diesem Viertel geschieht, überschreitet alle Grenzen. In einem Fenster neben dem anderen sitzen leicht bekleidete Frauen im Schein roter Lampen. Sie tragen billige Unterwäsche, manche haben Perücken auf. Sämtliche Varianten der weiblichen Figur sind vertreten: von mager und knochig bis zu üppigen Rubenskurven – und alle dazwischenliegenden Abstufungen.
In den schmalen Gässchen wimmelt es von Touristen, aber auch von zwielichtigen Gestalten in schwarzen Lederjacken und mit finsteren Gesichtern, die ihre Handelsware scharf beobachten. Es sind auffällig viele Polizisten unterwegs. Der Rotlichtdistrikt ist tatsächlich genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Nein, wenn ich ehrlich bin, ist er noch ekliger und schockierender. Ein beängstigendes Panoptikum, in dem ich mich unbehaglich fühle.
Unter den Mädchen sind einige, die kaum achtzehn Jahre alt sind, wenn überhaupt. Wenn sie mir, als potenziellem Kunden, gelangweilt zulächeln und versuchen, mich in ihren kleinen Laden zu locken, kann ich nur an eines denken: dass Claire ungefähr genauso alt wie sie gewesen sein muss, als sie diesen Beruf ausgeübt hat. Ich kann es kaum fassen. Will es nicht mal verstehen.
Sie hat mir Jahre ihres Lebens verschwiegen, einschließlich eines Freundes, der aussieht wie ein zusammengeflickter Boxer und laut eigener Aussage zehn Jahre im Gefängnis gesessen hat, weil man ihn bei »einem kleinen Job« erwischt hat. Sie muss ihn attraktiv gefunden haben. Schon die Vorstellung allein finde ich unerträglich. Widerlich. Dass Claire mit einem solchen Kerl intim gewesen ist. Mit ihm und mit … Hunderten anderen?
Und ich habe nie etwas davon gemerkt.
Nichts.
Keinen Augenblick lang.
Bin ich so naiv? Ein blinder, gutgläubiger, argloser Provinzdepp?
Nein, verdammt noch mal. Ich bin nicht von gestern. Ich weiß sehr genau, wie viele Dinge käuflich sind. Nur, dass auf dieser Welt sehr viele Dinge und Dienstleistungen angeboten werden, die ich einfach nicht haben will. Ich habe Freunde und Geschäftspartner hinter vorgehaltener Hand über Bordellbesuche reden hören, entweder aus eigener Erfahrung oder aus zweiter Hand. Die Geschichten reichten von einem aus dem Ruder gelaufenen Junggesellenabend über einen Clubbesuch bis hin zur Bestellung eines Escortservices. Ich habe mir das alles angehört, aber nie selbst solche Erfahrungen gemacht. Ich hatte kein Bedürfnis danach. Nie. Das ganze Konzept der käuflichen Liebe ist mir fremd, und dabei hätte ich es gern belassen.
Ist das nicht bittere Ironie? Dass gerade ich, obwohl ich nie etwas mit dieser halbseidenen,
Weitere Kostenlose Bücher