Abscheu
Ein, zwei Gläser gönnt er sich höchstens, und zwar am liebsten zu Hause. »Warum das denn?«
»Es hat sich eben so ergeben. Ich setze mich jedenfalls nicht mehr ans Steuer. Ich glaube, es ist besser, wenn ich hier übernachte.«
»Wo denn?«
»In einem Hotel. Ich habe mir schon ein Zimmer genommen.«
»Ich kann dich doch abholen?«
»Bei dem Feierabendverkehr? Nein, da stehst du nur im Stau. Spar dir die Mühe. Du wärst mindestens anderthalb Stunden unterwegs. Oder noch länger. Und dann müsste ich mein Auto hier an der Gracht stehen lassen …«
»Das macht doch …«
»Wir sehen uns morgen. Tschüs.«
Er unterbricht das Gespräch. Einen Moment lang starre ich das Telefon an, weil ich einfach nicht glauben kann, dass mein Mann unsere Unterhaltung mit einem einfachen »Tschüs« beendet hat. Als sei ich seine Sekretärin und nicht seine Frau.
Ich lege das Telefon zurück auf den Tisch.
»War das Harald?«
Ich drehe mich um zu Natalie. Sie hat ihren Mantel angezogen und ihr Make-up aufgefrischt. Ihrem desinteressierten Tonfall entnehme ich, dass sie von dem Gespräch kaum etwas mitbekommen hat.
»Ja. Er kommt heute Abend nicht nach Hause. Er musste zu irgendeinem Kongress.«
Säuerlich verzieht sie das Gesicht. »Toll, wenn einem die Männer so früh Bescheid sagen … Florian war auch ein Ass in Last-Minute-Anrufen. Aber der hatte ja auch drei Freundinnen gleichzeitig … Der Mistkerl.« Nervös schaut sie auf die Küchenuhr. »So, jetzt muss ich aber wirklich los.«
Nachdem Natalie gegangen ist, starre ich weiterhin stumm auf den Tisch. Harald hat zu viel getrunken? Harald ist an einem Bürotag nach Amsterdam gefahren, fast hundert Kilometer weit, und übernachtet jetzt dort?
Harald hat sich mit einem »Tschüs« von mir verabschiedet?
Ich greife nach dem Telefon und gebe seine Handynummer ein. Warte ungeduldig.
»Sie sind verbunden mit der Mailbox des Anschlusses von Harald van Santfoort, Ravelin Immo–…«
Das kann nicht sein. Er hat mich eben gerade erst angerufen. Noch einmal wähle ich seine Nummer.
»Sie sind verbunden mit der Mailbox …«
Nein, das ist kein Irrtum.
Nach dem merkwürdigen Telefonat hat Harald eiskalt sein Handy ausgeschaltet.
Elf
Von Anfang an hat Claire sich über einen Teil ihrer Vergangenheit ausgeschwiegen. Ich habe ihr bis in alle Einzelheiten von meiner Familie erzählt, von meinem abgebrochenen Studium, den Sommerferien bei meiner Oma, unserem ersten, zweiten und dritten Hund, meinen besten Freunden und den schlimmsten Feinden in der Nachbarschaft und an der Schule. Hauptsächlich hat sie mir zugehört, stundenlang. Hat Fragen gestellt. Interesse an den banalsten Anekdoten gezeigt.
Von sich hat mir Claire erzählt, sie sei mit achtzehn von zu Hause ausgezogen, habe in einem Schuhgeschäft gearbeitet und sich abends als Kellnerin etwas dazuverdient. Wie sie danach in die Hafenstadt und hier in diese Gegend geraten ist, habe ich nie so genau in Erfahrung bringen können. Und auch nicht, wie sie sich die teure Wohnung in der besten Wohngegend der Festungsstadt leisten konnte. Die Miete muss um die fünfzehnhundert Gulden pro Monat betragen haben, obwohl sie als Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft arbeitete. Claire war damals vierundzwanzig. Allein von ihrem Gehalt hätte sie diese Wohnung, die zahllosen Markenkleidungsstücke und den Schmuck, den sie trug, niemals bezahlen können. Doch sobald ich ihre Ausgabenpolitik vorsichtig hinterfragte, lachte sie laut und antwortete mit einer vagen, nie bewiesenen Geschichte über irgendwelche Ersparnisse. Hakte ich daraufhin nach, nannte sie mich »Nasenbär« und »Tiger« und erstickte jeden aufkeimenden Verdacht mit ihrem warmen Lachen und ihren nassen Küssen. Die letzten Reste von Misstrauen dämpfte sie mit ihrem wohlgeformten Körper.
Über sechs Jahre ihres Lebens weiß ich kaum etwas. Ich habe damals vermutet, sie hätte einen reichen, vielleicht wesentlich älteren Freund gehabt, der ihr in dieser Zeit Geld zusteckte. Oder sie sei die Geliebte eines vermögenden, verheirateten Mannes gewesen. Ich habe es nie erfahren. Als wir heirateten, brachte sie knapp zwanzigtausend Euro mit in die Ehe.
Dass sie in einem Nachtclub gearbeitet hat, erklärt alles mit einem einzigen, vernichtenden Schlag.
Nachdem dieser abscheuliche Kerl mein Büro verlassen hatte, wäre ich am liebsten nach Hause gefahren, um Claire mit dieser Geschichte zu konfrontieren. Und nicht nur das. Ich hatte vor, ihre gesamte Garderobe
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