Abschied braucht Zeit
existentiellen Bedeutung anzunähern. Besonders dann, wenn die sozialen Bedingungen oder die familiären Verhältnisse keine Unterstützung zulassen oder diese aus anderen Gründen nicht angeboten werden kann, ist der Appell »Dann hilf mir wenigstens so« nicht nur ein Zeichen des Vertrauens in den Arzt, sondern auch eine Anklage. Wenn der Wunsch nach Sterbehilfe aus dem Alleinsein, dem Gefühl der Verlassenheit und den Verlusten sozialer Beziehungen entsteht und deutlich ausgesprochen wird, ist dies nicht immer Ausdruck einer Depression oder einer Lebensbilanz, die die Zukunftsperspektive nur noch negativ sieht, sondern eines eigenen Wertesystems, in dem der Tod als konsequente und subjektiv logische Möglichkeit derLebensvollendung angesehen wird. Er wird als die weniger schlimme Alternative zum als unerträglich, belastend oder gar als sinnlos empfundenen »lebensunwerten« Leben betrachtet.
Das »sozialverträgliche Frühableben«, z.B. durch Euthanasie oder durch Beihilfe zum Suizid, bietet eine verführerische Perspektive, die in der Öffentlichkeit zunehmend als bedrohlich empfundene soziale Altersproblematik und Belastungen durch Behinderungen auf elegante Art zu lösen. Die psychosoziale Orientierung der Palliativmedizin versucht hier Alternativen und Antworten, z.B. durch ehrenamtliche Begleitung oder durch Nachbarschaftshilfe, anzubieten und dem Wunsch nach Euthanasie soziale Verbundenheit entgegenzusetzen.
Eine weitere Möglichkeit, dem Wunsch nach Sterbehilfe entgegenzuwirken, ist die Berücksichtigung ökonomischer Aspekte, die bei Sterbe- und Tötungswünschen mehr oder weniger bewusst und deutlich zum Ausdruck gebracht werden. Die letzte Lebenszeit verursacht in der Regel die höchsten Betreuungs- und Behandlungskosten. Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit in der modernen Medizin bestimmt zunehmend auch Entscheidungen über das, was für den Einzelnen sinnvoll ist und noch getan werden kann. In Zukunft wird es immer schwieriger werden, alle medizinischen Möglichkeiten in der Behandlung von Krankheiten zu finanzieren und allen Menschen zur Verfügung zu stellen. Dieses allokationsethische Problem berührt auch die letzte Lebenszeit. Wie verführerisch ist es, in diesem Zusammenhang durch die einfache Möglichkeit, die letzte Lebenszeit zu verkürzen, eine Kostensenkung zu erreichen, um für andere Bereiche mehr Ressourcen verfügbar zu haben? So wird die zunehmende »Überzähligkeit« der Älteren auch von Gefühlen des Überflüssigseinsund der Scham begleitet, die den Gedanken an Euthanasie besonders dann auftreten lassen, wenn die letzten teuren Wochen der Betreuung von »aussichtslosen Fällen« als Belastung des Sozialwesens angesehen werden. Andererseits befürchten alte Menschen auch immer wieder, dass ihnen lebenserhaltende Medikamente, Fürsorge und Operationen vorenthalten werden. Hier hat die Palliativmedizin die Aufgabe, eine Balance zwischen individualethischen und sozialethischen Kriterien zu finden. Dies erfordert Vorurteilslosigkeit und verantwortungsvolles Entscheiden zum Verzicht oder zur Begrenzung therapeutischer Maßnahmen im Hinblick auf individuelle, aber auch soziale Bedürfnisse.
Unter Rationierungs- und Allokationsgesichtspunkten könnte Euthanasie im Vergleich zur palliativmedizinischen Betreuung vordergründig tatsächlich als eine kostengünstige Lösung erscheinen. Doch auch wenn Palliativmedizin nicht billig ist, muss gefragt werden, ob mit Bezug zu den Kosten in anderen Bereichen der Gesundheitsversorgung die Prioritäten hier nicht falsch gesetzt wären. Erhöht die Möglichkeit, die letzte Lebensphase durch Euthanasie gezielt abzukürzen, nicht auch die Gefahr, dass der gesellschaftliche Druck größer wird, eine solche »Lösung« aus ökonomischen Gründen zu akzeptieren und zu legitimieren?
Ein weiterer Aspekt in der Auseinandersetzung mit dem Verlangen nach Euthanasie verweist auf ethische Prinzipien, die ärztliches Handeln begründen. Das Thema Sterbehilfe ist kein Tabu in der Palliativmedizin. Der Respekt vor der individuellen Autonomie des anderen erfordert, Wünsche nach Hilfe zum Sterben oder zur Selbsttötung sehr aufmerksam aufzunehmen, im Wertesystem des anderen anzuerkennen und die zugrunde liegenden Überlegungen zu verstehen. Die Einbeziehung von anderen in den eigenen Todeswunsch und dasVerlangen nach ärztlicher Hilfe zur Lebensbeendigung ist immer auch ein Zeichen großen Vertrauens; nicht selten verbirgt sich dahinter jedoch ein
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