Abschied braucht Zeit
Konzept im Spannungsfeld zwischen einer durch optimale Symptomkontrolle auf eine verbesserte Lebensqualität hin orientierten Intensivmedizin, die zwar den Tod als biologische Notwendigkeit anerkennt, ihm aber doch immer wieder entgegentritt, und einer auf ein friedliches und erträgliches ›humanes‹ Sterben hin orientierten Abschiedsbegleitung, die dem Tod seine spirituelle und individuelle Bedeutung zugesteht.
Frau K. war eine Mutter von vier schon erwachsenen Kindern. Aufgrund eines therapieresistenten Asthmaleidens hatte sie in den letzten Monaten fast nur noch unter extremer physischer Anstrengung mit Sauerstoffmaske leben können und unter schwersten Atemnotanfällen gelitten. Die langjährige Cortisonbehandlung und andere Medikation hatten ihren Körper extrem aufgedunsen, so dass siesich selbst kaum noch wiedererkannte, sich nur sehr schlecht bewegen konnte und im Bett nur mit Mühe zu lagern war. Ihr Körper war aufgrund einer erhöhten Blutungsbereitschaft von Hämatomen übersät. Der Stoffwechsel war durcheinandergeraten, und es bestand der Verdacht auf einen Abszess, der eigentlich operiert werden musste. Die Behandlung jedes einzelnen Teils ihrer Erkrankung war mit ungeheuren Belastungen verbunden, so dass wir uns immer wieder fragten, wie viel wir ihr überhaupt zumuten konnten. Maximaltherapie – Therapiebegrenzung – Therapieverzicht – Therapieabbruch? Sie gestand uns, dass sie bereit sei zu sterben, aber die ihr noch verbliebene Zeit, jeder Augenblick davon, immer wertvoller für sie werde, weil sie alles so intensiv erlebe: Jeder Sonnenstrahl, das Zwitschern der Vögel, Musik, Gedichte und auch Süßigkeiten, jede kleinste Aufmerksamkeit, die Anwesenheit der Kinder erfülle sie mit ungeheurer Dankbarkeit und Glück. Es war ein langer Abschied und kein friedliches Sterben, das besonders geprägt war durch die Angst vor dem Ersticken, die wir einfühlsam zu lindern versuchten.
Zwei Tage nach dem Tod ihrer Mutter schrieb ihre damals neunzehnjährige Tochter uns einen Brief: »Ihr Leben, das auch die lange Abschiedsphase bei Euch beinhaltete, hinterließ Spuren, ganz individuelle Spuren, die viel bedeuten und vielleicht auch Zeit zum Begreifen brauchen. Ich möchte Euch danken, besonders dafür, daß sie so würdevoll sterben durfte. Sie war eine würdevolle Frau und so starb sie auch. Ich glaube, daß wir großes Glück haben, den Tod auf diese Weise zu erleben. Sie war von Liebe erfüllt, das sieht man auf ihrem wunderschönen Gesicht. Es war mir sehr wichtig, sie noch zu berühren und ihre noch warme und weiche Haut zu spüren. Auch das Waschenund Einölen ihres Körpers, das mit ihr Sprechen und das Streicheln und Küssen ihres ›dagebliebenen Hauses‹ hat mir sehr geholfen … Heute war ich noch mal bei ihr. Der Aufbahrungsraum ist sehr schön. Ich habe bis heute nicht geglaubt, daß es eine so runde, wunderbare Harmonie gibt auf der Welt, wie ich sie heute bei ihr gefühlt habe. Euch möchte ich danken, daß Ihr uns geholfen habt, den Abschied intensiv genug zu machen. Es ist alles gut und richtig, wenn auch mehr als schwer, anstrengend und vor allem traurig.«
Von Befürwortern der Euthanasie wird gelegentlich argumentiert, dass Palliativmedizin und Hospizbetreuung zwar anerkennenswerte Möglichkeiten seien, das Leiden und die Belastungen bei Schwerstkranken zu mindern, dass aber selbstbestimmte Sterbewünsche und die individuelle Würde des Sterbenskranken nicht immer ausreichend beachtet würden. Auch dem palliativmedizinisch betreuten Sterbenskranken sollte nicht nur die Wahl des Sterbenlassens nach unterschiedlichen Modalitäten, sondern auch die bewusste Entscheidung zum Tod durch assistierten Suizid oder Euthanasie in Ausnahmefällen möglich sein.
Im renommierten British Medical Journal forderte 2008 eine belgische Ärztegruppe, Euthanasie in Extremsituationen unerträglichen Leids als synergistische Option der Palliativversorgung zu akzeptieren – sozusagen als letzte palliative Behandlungsmaßnahme, wenn alles andere nicht erfolgreich war. 51 Eine im November 2008 veröffentlichte Umfrage des Spiegel zeigte, dass 16 Prozent der befragten Ärzte eine gesetzliche Regelung zur Euthanasie und 41 Prozent eine gesetzliche Zulassung des ärztlich assistierten Suizids unterstützen würden. 52
Besonders die Beihilfe zum Suizid wird auch in der Palliativmedizin kontrovers diskutiert. Einerseits ist der Suizid diejenige Todesart, die am meisten Betroffenheit auslöst und Spuren
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