Abschied braucht Zeit
verborgener, starker Lebewunsch, den es zu erkennen gilt – auch wenn die Möglichkeiten oft begrenzt sind, diesen Wunsch entsprechend zu erfüllen. Wichtig ist es, die Tötung auf Verlangen vom Sterbewunsch und von der Sterbebereitschaft abzugrenzen. Gerade mit den vielen Möglichkeiten der Intensivmedizin, Leben zu verlängern, gilt es auch zu akzeptieren, dass Menschen sich nicht gegen ihren Willen der Unausweichlichkeit des Todes durch lebensverlängernde Maßnahmen ausgeliefert sehen möchten. Hier haben Patientenverfügungen einen verpflichtenden Stellenwert, den es zu respektieren gilt. Wenn Menschen jedoch verlangen, dass ihr Leben durch ärztliche Maßnahmen gezielt beendet wird, so wird damit nicht nur der strafrechtliche Bereich, sondern auch das Selbstverständnis des ärztlichen Berufs angesprochen. Die Frage, ob die Tötung auf Verlangen und/oder die Beihilfe zur Selbsttötung zu den ärztlichen Aufgaben gehören sollten, wird nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Ärzteschaft kontrovers diskutiert. Hier eine ethische Position einzunehmen und verständlich zu vertreten, führt – wenn Tötungswünsche geäußert werden – auch bei Ärzten zu Konflikten, denen man sich allerdings nicht entziehen darf.
Frau K. war eine erfolgreiche Schauspielerin gewesen und zuletzt als bedeutende Theaterkritikerin tätig. Der trotz intensiver Chemo- und Strahlentherapie weit fortgeschrittene Brustkrebs hatte ihre Haut in ein brennendes Ekzem verwandelt und zu einer monströsen Anschwellung des rechten Arms geführt. Jede kleinste Bewegung schmerzte. Mehrfach am Tag musste ihr Arm gewickelt und verbunden werden, was sie wie eine Folter empfand. Ihre durchAngst und Hilflosigkeit ausgelösten Panikanfälle und bedrohlichen Aggressionen führten bald dazu, dass kaum noch einer der Pflegenden sie betreuen wollte oder konnte. Auch ihre Lebenspartnerin war nicht in der Lage, sich der unkontrollierten Wut von Frau K. zu entziehen, und dennoch verbrachte sie in beinahe sklavischer Ergebenheit täglich fast 20 Stunden bei ihr.
Die medikamentöse Therapie musste wegen intolerabler Nebenwirkungen immer wieder geändert werden. Alle wussten, dies würde ein schlimmes Sterben werden. Immer wieder fragte Frau K., wann es denn so weit sein werde, warum wir es denn nicht beschleunigen und weshalb wir sie denn nicht endlich durch eine todbringende Spritze befreien könnten. Es gab lange philosophische Diskussionen über das Für und Wider und die verschiedenen Formen der Sterbehilfe. In ihrem Nachttisch befand sich eine größere Menge an Opiaten, Schlaf- und Beruhigungsmitteln, die wohl ausgereicht hätten, um sich selbst zu töten. Ich versprach ihr, nichts zu unternehmen, wenn sie wirklich selbst ihrer Qual ein Ende setzen würde. Sie hat es nicht getan. Trotz aller Umstände gelang es schließlich, die Schmerzen so weit zu lindern, dass sie mit Unterstützung eines toleranten Pflegeteams nach Hause entlassen werden konnte. Sie starb etwa drei Wochen später an Erschöpfung im Kampf gegen den Tod und gegen das Nicht-Sterben-Wollen. Ihr Appell an uns war keine Aufforderung zum Töten gewesen, sondern ein Ausdruck ihrer Qual, vielleicht ein Schrei der verzweifelten Sehnsucht nach Leben, dem wir nicht angemessen begegnet sind.
Die Prämisse des Tötungsverbots ist Ausdruck des kulturellen Niveaus einer Gesellschaft, Grundlage des humanen Miteinanders. Die Art und Weise, wie wir mit Sterben und Tod umgehen, kennzeichnet unsere Gesellschaft. Gezieltes Töten als ›humane‹ Möglichkeit der Leidenslinderung birgt die Gefahr des Missbrauchs, indem die Indikation erweitert und es zunehmend häufiger angewendet wird. Natürlich gibt es in der Sterbebegleitung dramatische und auch tragische Momente für die Sterbenden und deren Angehörige, denen wir uns besonders als Ärzte und Pflegende stellen müssen und die wir nicht lösen dürfen, indem wir töten. Sterbebegleitung bedeutet zwar immer auch Verzicht auf eventuell noch vorhandene Handlungsoptionen, was jedoch nicht damit gleichzusetzen ist, nichts mehr zu tun. Dabei zeigt sich, dass die Grenze zwischen Palliativmedizin, Sterbebegleitung und Sterbehilfe gelegentlich sehr dünn ist. Harmonie, Autonomieförderung und gemeinsame Sinnfindung sind die drei wesentlichen Elemente einer guten palliativen Begleitung bis in die Todesstunde – vielleicht sind sie auch die drei wesentlichen Elemente von menschlicher Würde. Insofern folgt die Palliativmedizin einem umfassenden
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