Abschied braucht Zeit
Zeit unterstützte. Die Tür zum Keller stand offen, sie ging die fünf Stufen hinunter und erblickte Herrn G. – er hatte sich erhängt .
Wenn durch einen Suizid ein Konflikt beendet, aber das Problem nicht gelöst wird, hinterlässt dies Fragen. Dies gilt in besonderer Weise auch für den Alterssuizid. In Deutschland nimmt sich durchschnittlich etwa alle zwei Stunden ein alter Mensch das Leben. Insgesamt sterben in Deutschland jährlich mehr als 10 000 Menschen durch Selbsttötung, das sind mindestens 1,2 Prozent aller Todesfälle. Etwa 100 000 Menschen jährlich unternehmen einen Suizidversuch. Allerdings gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. So lag 2006 die Suizidrate mit 13,4 Fällen pro 100 000 Einwohner in Bayern am höchsten, am niedrigsten war sie in Sachsen-Anhalt mit 6,6 Fällen. Im Bundesschnitt wurden 10,8 Fälle pro 100 000 Einwohner dokumentiert. Bei älteren Menschen liegt die Suizidhäufigkeit etwa dreimal höher als bei der Gesamtbevölkerung. Besonders bei hochbetagten Männern über 85 liegt die Suizidrate deutlich über 100 Fällen pro 100 000 Einwohner. 50 Prozent aller Suizidenten im Alter haben in den letzten vier Wochen ihres Lebens einen Arzt aufgesucht, ohne dass die suizidale Gefährdung wahrgenommen wurde. Besonders für den Alterssuizid findet sich auch in Deutschland eine zunehmende soziale Akzeptanz und moralische Toleranz. Die Konflikte und Ängste, die den Suizidüberlegungen und ausgeführten Selbsttötungen kranker und alter Menschen zugrunde liegen, haben konkrete Anlässe: Verlust der Selbständigkeit durch körperlichen und geistigen Verfall, psychische und/oder materielle Belastung anderer, Verlust der eigenen Wohnung, demütigende und trostlose Anstaltspflege, sterbens- und leidensverlängernde medizinische Interventionen, Schmerzen, unerträgliches Leiden, Verlust der Würde. Besonders dann, wenn das Individuum seine Würde nicht mehr von dritter Seite garantiert sieht, wird der Suizid als Ultima Ratio in Betracht gezogen und findet dann, wenn er vollzogen wird, durchaus allgemeine Akzeptanz –auch wenn Angehörige, Freunde und Bekannte im Einzelfall immer wieder erschüttert sind. Stellt die zunehmende Toleranz und Akzeptanz nicht auch eine Kapitulation vor den Notwendigkeiten dar, die Bedingungen des Altseins so zu gestalten, dass auch diese Lebensphase subjektiv und objektiv so angenommen werden kann, dass Suizidabsichten nicht oder zumindest seltener aufkommen? Ist die eigentliche Aufgabe nicht Suizidvermeidung anstelle von Suizidermöglichung?
In der besonders in den industrialisierten Ländern mit hohem medizinischem Standard geführten Diskussion wird der ärztlich unterstützte Suizid ( physician-assisted suicide ) häufig als geeignete Alternative zur verbotenen Tötung auf Verlangen angesehen. 59 Sind Ärzte besondere Tötungsspezialisten? Eine vor einigen Jahren in Leipzig durchgeführte repräsentative Untersuchung ergab, dass 60 Prozent der befragten Bürger sich für eine Legalisierung der Tötung auf Verlangen und ärztliche Beihilfe zum Suizid aussprachen. Während etwa 20 Prozent im Notfall auch für sich selbst die Tötung durch einen Arzt in Anspruch nehmen würden, waren nur 6 Prozent bereit, selbst einen Suizid zu begehen. Verantwortung für den Tod auf sich nehmen und zu töten scheinen zweierlei Dinge zu sein. Die Selbstverständlichkeit, mit der Tötung als eine ärztliche Aufgabe angesehen wird, erstaunt. Und bei allem Respekt vor der Not der Betroffenen, eine möglichst sichere und wenig qualvolle Methode zu finden, stellt sich die Frage, ob Ärzte, die den Suizid als eine sinnvolle Alternative zur gezielten Lebensbeendigung bei sterbenskranken Menschen ansehen, nicht doch sehr nahe daran sind, selbst zum Vollstrecker zu werden. Jedes Bündnis zum Tode hinterlässt Spuren, die die Sinnbestimmung des eigenen Handelns in Frage stellen. Steht es nicht im Widerspruch zum Vertrauen in die grundlegende Prämisse der Medizin, Gesundheit zu erhalten und zu fördern sowie Autonomie zu unterstützen,wenn Ärzte ihre fachliche Kompetenz auch zur gezielten Lebensvernichtung anbieten?
Die allgemein-ethischen Prinzipien der Medizin 60 können Orientierung geben, aber nicht alle Fragen mit richtig oder falsch beantworten. So z.B. die wichtige Frage, ob und inwieweit es gerechtfertigt oder notwendig ist, bei Sterbenskranken Suizidversuche zu verhindern, wenn die Erkrankung für den Betreffenden besonders gravierend und zudem irreversibel
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