Abschied braucht Zeit
palliativmedizinischer wie aus allgemein medizinischer Sicht keine ärztlich indizierte Therapieoption dar. Therapie – und ganz besonders eine leidenslindernde Behandlung – muss immer die Qualität, den Sinn und den Wert des einigermaßen bestimmbaren Lebens und nicht des unbestimmbaren Todes im Auge haben. Nicht die Abschaffung des Leidenden, sondern die Linderung des Leids ist die Aufgabe des Arztes. Die Bereitstellung und Gabe von tödlich wirkenden Medikamenten ist zwar eine medizinische Handlung, jedoch keine therapeutische Maßnahme, die im Grundverständnis ärztlichen Handelns normativ begründet und moralisch gerechtfertigt werden könnte. Tötung auf Verlangen und ärztliche Mitwirkung bei Selbsttötung beenden zwar manchmal einen Konflikt, ohne jedoch das zugrunde liegende Problem einer am Leben orientierten Leidenslinderung zu lösen.
Die Begleitung des Suizids als ärztliche Aufgabe und die Auseinandersetzung mit seiner ethischen Problematik habeneine lange Tradition, 56 die auch philosophische Fragen berührt. Dabei kommen schon durch die unterschiedliche Verwendung der Begriffe Freitod und Selbstmord für die Selbsttötung die verschiedenen Bewertungen zum Ausdruck. In der griechischen Antike hatte die Beschäftigung mit dem Suizid zumindest in intellektuellen Kreisen einen hohen Stellenwert. Platon verurteilte in seinem berühmten Phaidon-Dialog, in dem er über die Unsterblichkeit der Seele philosophierte, die Selbsttötung als menschliche Anmaßung göttlicher Rechte. In nachplatonischer Zeit bildete sich besonders bei den Stoikern eine Position heraus, die eine differenzierte ethische Theorie des sittlich erlaubten Freitods zur Grundlage hatte. Dem eulogos exagoge – dem wohlüberlegten Freitod – musste eine eingehende Prüfung der Umstände und der Gründe vorausgehen, wobei Lebensüberdruss, Sucht, Schwäche oder ein Hadern mit dem Schicksal als nicht ausreichend angesehen wurden. In einigen Kulturen kannte man die Selbsttötung aus religiösen Gründen, so z.B. bei den Satis die Witwenverbrennung oder bei den Sadhus den asketische Suizid, das Todeshungern. Auch im Buddhismus wird der frei von Hass, Wut oder Angst vollzogene Suizid in bestimmten Situationen moralisch akzeptiert. Beim Fehlen ethisch-religiöser Selbstmordtabus erfolgt der Umgang mit der Selbsttötung unbefangener, z.B. bei einigen afrikanischen und indianischen Völkern. 57
Nach Jean Amery war die Freiheit zum Tode ein »Privileg des Humanen« – ein letzter Akt und Ausdruck von Authentizität, wenn die Bedingungen eines Weiterlebens aus welchen Gründen auch immer unerträglich erscheinen. Er griff damit die Haltung Michel de Montaignes auf, für den »das Sterben lernen« ein wesentlicher Teil seiner Philosophie war. Die Beendigung des Lebens durch die eigene Hand ist die äußerste Form menschlicher Selbstbehauptung, die letzte Manifestation einer eigenen autonomen Lebensgestaltung, die nur dem Menschen möglich ist.
Die wesentlichen Argumente der heutigen Befürworter der ethisch legitimierten Selbsttötung bei unheilbaren Erkrankungen oder im hohen Lebensalter formulierte vor 250 Jahren David Hume in seinem Aufsatz On suicide . Wenn ein Mensch durch Alter, Krankheit oder Unglück zur allgemeinen, aber auch eigenen Belastung geworden sei, könne ein freiwilliger Tod weniger schlimm sein als ein vernichtetes Leben. Ein freiwilliger Tod könne in bestimmten Situationen die einzige Möglichkeit bieten, Würde und Humanität zu bewahren, wenn das Leben aus subjektiver und objektiver Sicht nicht mehr lebenswert erscheine. 58
Herr G., ein 94-jähriger Patient, ehemaliger Bankkaufmann, war wegen eines blutenden Rektum-Ca auf der Palliativstation aufgenommen worden. Er wollte schnellstens wieder nach Hause, weil er seine 87-jährige, ebenfalls kranke Ehefrau unterstützen wollte, die dringend seiner Hilfe bedurfte. Im Vordergrund seiner Beschwerden standen Schmerzen im Knie, die ihn am Laufen hinderten. Nach wenigen Tagen wurde er entlassen, am gleichen Abend jedoch erneut aufgenommen – wieder mit Schmerzen im Bein. Nach vier Tagen hatte er es mit Hilfe von Krankengymnastik endlich geschafft, sich besser bewegen zu können, er konnte auch die fünf Stufen laufen, die hinab auf unsere Terrasse führten. Wir waren stolz, dem alten Herrn wieder so viel Autonomie ermöglicht zu haben, und entließen ihn nach Hause. Am nächsten Morgen besuchte ihn eine Krankenschwester unserer Station, die das alte Ehepaar schon seit einiger
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