Abschied braucht Zeit
selbst zu bestimmen, unterstützt wird. Diese Form der »Lebenshilfe« wird ähnlich wie die indirekte Sterbehilfe moralisch durch die Theorie des Doppeleffekts gerechtfertigt: Die Möglichkeit der Lebensverkürzung wird zugunsten einer qualitativ verbesserten Lebenssituation als Risiko in Kauf genommen, aber nicht beabsichtigt.
T., ein an AIDS erkrankter Krankenpfleger, bat seinen besten Freund, einen Arzt, ihm die Medikamente für eine tödliche Infusion zu verschreiben, die er sich gegebenenfalls anlegen könnte, um sein Leben zu beenden. Beide wussten, dass die Lebenserwartung in diesem fortgeschrittenen Krankheitsstadium nur noch wenige Wochen, vielleicht Monate betrug. T. wollte leben, aber er wollte auch nicht qualvoll zugrunde gehen und hatte den Wunsch, die ihm verbleibende Zeit in der Sicherheit und Gewissheit zu erleben, dass er sein Leben dann abschließen könnte, wenn es für ihn nicht mehr zu ertragen wäre. Es gab lange Diskussionen über die Frage der Sterbehilfe und des Freitods, der zu dieser Zeit bei vielen AIDS -Patienten durchaus als Möglichkeit in nicht mehr tolerablen Erkrankungssituationen in Betracht gezogen und mit Ärzten diskutiert wurde. Der Arzt verschrieb die Medikamente. Freundschaftsdienst? Moralische Verpflichtung? Machte er sich strafbar oder handelte er aus einer medizinischen Indikation heraus? T. hat die Medikamente niemals eingesetzt, er kämpfte bis zuletzt darum, zu leben. Aber er empfand die Sicherheit, die Freiheit, die ihm blieb, in dieser kurzen Zeit als wichtige Lebenshilfe, nicht als Sterbehilfe. Was wäre gewesen, wenn T. die Möglichkeit des Freitods in die Tat umgesetzt hätte? Wie hätte der Arzt diesen Tod empfunden? Wie ist ein solches Handeln ethisch oder moralisch zu bewerten?
Bei der Debatte über ärztliche Hilfe zum Suizid und Euthanasie geht es nicht allein um die Frage der Selbstbestimmung und der Autonomie in Grenzbereichen des Leidens, nicht nur um Freiheiten und Handlungsformen in Grenzsituationen, sondern vor allem um die Beziehungen von Menschen zueinander, um Nächstenliebe, soziale Verpflichtung und Verantwortung und um das Humanum und das Miteinander, 63 das durchaus auch eine Herausforderung darstellen kann.
In einer Welt, in der der eigene Tod vielerorts als Waffe eingesetzt und in der menschliches Töten zunehmend als legitim betrachtet wird, besteht zunehmend die Gefahr, dass durch die Möglichkeit, den eigenen Tod zu planen, zu zähmen oder auch zu funktionalisieren, die Probleme im Umgang mit schwerer Krankheit und einem würdigen Sterben, aber auch die Achtung vor dem Geschenk des immer auch durch Todesgewissheit gekennzeichneten Lebens mehr und mehr aus dem Blickfeld geraten.
Kapitel 4
Respekt vor Autonomie – das Recht des Schwächeren und die Dominanz des Stärkeren
Frau F., 87 Jahre, eine seit vielen Jahren im Pflegeheim lebende, bettlägerige, demente alte Dame, wird aufgrund von Schmerzen, Atemnot und Erbrechen ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte diagnostizieren einen Darmverschluss bei einem seit vielen Jahren bestehenden Narbenbruch der Bauchwand. Die ihr vorgeschlagene Operation lehnt die Patientin vehement ab, ebenso die intravenöse Ernährung. Die als Betreuerin eingesetzte Tochter wird informiert, und man verständigt sich, die mit einem hohen Risiko verbundene Operation gegen die eindeutigen, ablehnenden Willensbekundungen der Betroffenen durchzuführen.
Der postoperative Verlauf ist von erheblichen Komplikationen begleitet: Frau F. muss mehrere Tage lang künstlich beatmet werden, wegen einer Bauchfellentzündung aufgrund einer Nahtinsuffizienz wird sie nach zehn Tagen ein weiteres Mal operiert, einige Tage später kommt es erneut zu Zeichen einer Sepsis und Ateminsuffizienz. Der Chirurg lehnt nun eine weitere Operation ab, die Internisten sehen jedoch noch eine Chance, durch eine Darmspiegelung die Nahtinsuffizienz zu beherrschen – während dieser endoskopischen Intervention kommt es zu einem Kreislaufschock, der Wiederbelebungsmaßnahmen erforderlich macht. Die Patientin übersteht zunächst auch diese Komplikation. Wenige Tage später – einen Tag vor der zur Kontrolle erneut angesetzten Darmspiegelung – stirbt Frau F. endlich nach sieben Wochen Krankenhausaufenthalt plötzlich auf der Intensivstation.
Vergleichbare Schicksale ereignen sich fast täglich in deutschen Krankenhäusern. Wären die Patientin und ihre Tochter zufriedener, glücklicher gewesen, wenn alles gut verlaufen wäre? Was wäre gewesen,
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