Abschied braucht Zeit
wenn die Ärzte gesagt hätten: Ja, wir verzichten auf die zwar medizinisch angezeigte, aber vielleicht nicht angemessene Operation. Wir begleiten die Patientin und ihre Tochter durch eine gute Schmerzmedikation, lindern die Atemnot, verlegen sie in ihre vertraute Umgebung zurück. Wir helfen im Sterben, wie es sich Frau F. eigentlich gewünscht hat? Gerade in solchen Grenzsituationen wie bei Frau F., in denen sich viele Patienten und Angehörige der Medizin hilflos ausgeliefert fühlen, werden die medizinischen, rechtlichen und ethischen Probleme häufig zu wenig reflektiert.
Hier stellt sich zwangsläufig die Frage: Gibt es überhaupt noch ein natürliches Sterben? Was bedeutet Autonomie für den Sterbeprozess? Gibt es ein Recht auf einen guten, einen würdigen Tod, wenn die letzte Lebenszeit so sehr durch die Dominanz des Stärkeren bestimmt wird? Verantwortliches Handeln in der Nähe des Todes bewegt sich im Spannungsfeld der Rechte des Schwächeren und der Pflichten des Stärkeren.
Anders als vor 100 Jahren sind Sterben und Tod heute zur medizinischen Aufgabe geworden. Die von Ivan Illich treffend für die Situation im 20. Jahrhundert beschriebene »Medikalisierung des Sterbens« 64 hat die Frage nach der Verantwortung für den Sterbeprozess zu einem öffentlichen Thema gemacht, bei dem über den Sinn medizinischer Maßnahmen im Hinblick auf die Sterbequalität und ein würdevolles Sterben verstärkt reflektiert und diskutiert wird. Diese Medikalisierung des Sterbens bezieht sich einerseits auf die Veränderung des Sterbeorts (vom eigenen Zuhause ins Krankenhaus), andererseits aber auch auf die Abhängigkeit des Zeitpunktesund der Art des Sterbens von medizinischen Entscheidungen. Durch die technischen Möglichkeiten, den Todeszeitpunkt zu manipulieren, können sich Interessenkonflikte entwickeln, in denen das Sterben von den Beteiligten nicht mehr als autonome Leistung am Ende des Lebens ›einfach‹ zugelassen wird, sondern als eine mit menschlichen und moralischen Zumutungen verbundene Ausnahmesituation erscheint. Die gilt besonders dann, wenn es um Entscheidungsfragen am Lebensende geht oder wenn der Kampf gegen die Krankheiten als verloren erklärt wird. Angehörige und Pflegende, die Sterbende betreuten, haben andere Vorstellungen von der Qualität eines guten Sterbens als Menschen, die solche Erfahrungen nicht hatten. 65 Für gesunde Menschen ist in der Regel ein plötzlicher Tod ohne lange Abschiedszeit, das Sterben im Schlaf ein guter Tod, 66 Schwerstkranke wünschen sich im Angesicht des Todes vor allem eine gute ärztliche und pflegerische Betreuung und eine bewusste, für alle Beteiligten stimmige Abschiedsphase. Entscheidungen an der Grenze des Lebens werden aber in der Regel von denen getroffen, die nicht selbst betroffen sind, sich nicht an der Schwelle befinden.
Die Verlagerung des Sterbens und die Behandlung des sterbenskranken Menschen in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen, Palliativeinrichtungen und Hospizen werden häufig mit dem Appell verbunden, dass wir Tod und Sterben bewusster begegnen müssten: Wir sollen dem physischen, dem natürlichen Tod den Vortritt lassen und ihn nicht mit allen Mitteln bekämpfen. Solche Überlegungen finden große Resonanz. Aber entsteht nicht gerade bei alten und auch bei sterbenskranken Menschen gelegentlich das Gefühl, für andere schon längst tot, psychisch gestorben zu sein, wenn sie den Eindruck haben, dass man nur noch auf ihren physischen Tod wartet und nichts mehr oder nicht mehr genug getan werden kann, um sie diesem zu entreißen? Wird dieses Gefühlbei den Betroffenen nicht sogar gefördert, wenn wir den physischen Tod des anderen so bewusst akzeptieren? Wie ist das, wenn ein Mensch physisch zwar noch lebt, sich aber sozial tot fühlt, wenn er sich nicht mehr als leistungsfähig empfindet, er nicht mehr anerkannt wird? Wie ist das, wenn ein Mensch physisch zwar noch lebt, er sich aber innerlich bereits verabschiedet, zurückgezogen hat und für sich keine Selbstverwirklichung, keine Lebensberechtigung mehr sieht? Psychisches und soziales Sterben, welches einhergeht mit Selbstwert- und Rollenverlust sowie sozialer und emotionaler Vereinsamung, ist der Hauptgrund für den Wunsch nach Tötung auf Verlangen oder nach Hilfe zum Suizid bei alten Menschen. Welche Rechte haben also Menschen, die bereits vor ihrem physischen Ende sozial und psychisch »gestorben« sind?
Man muss sich fragen, ob das Paradigma der Todesverdrängung nicht die
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