Abschied braucht Zeit
Arzt-Patienten-Verhältnis bestimmen ließe, nur vordergründig befriedigend und hilfreich: 70 Lebenserhaltung, Selbstbestimmung, körperliche Unversehrtheit, Leidenslinderung, Respekt vor der Person, Wahrhaftigkeit und Verschwiegenheit sind zwar wichtige Elemente einer ethisch begründeten Gesundheitsfürsorge, das Wesen einer in besonderer Weise von Verstehen, Mitgefühl und Verantwortung geprägten Begleitung am Lebensende wird aber nur bedingt erfasst. Und gerade weil diese Aufgabe immer auch mit einer Annäherung an unsere eigene Endlichkeit verbunden ist, darf man im Spannungsfeld von Autonomie und Fürsorge trotz der unterschiedlichen Rollen die gemeinsame Orientierung nicht aus dem Auge verlieren. Hier lassen sich drei für die Arzt-Patienten-Beziehung bei sterbenskranken Menschen wichtige Gesichtspunkte nennen: Neben dem Respekt vor Autonomie betrifft diese die Beachtung des Rechts auf Scham sowie die Auseinandersetzung mit dem Willen des Sterbenden. Zunächst zur Autonomie: Kranksein ist immer mit einer Einschränkung, wenn nicht mit einem Verlust von Autonomie verbunden. Thure von Uexküll hat darauf hingewiesen, dass die Wiederherstellung, Stärkung oder zumindest die Respektierung einer eventuell nur noch in Resten vorhandenen Autonomie zu den Grundprinzipien der modernen Medizin gehören: »Die Autonomie des Menschen ist das Fundament seiner Freiheit … auf ihr beruht die Würde seines Mensch-Seins, deren Gewicht wir, wie so oft, erst in dem Augenblick des Verlusts wirklich wahrnehmen … Autonomie beinhaltet die Fähigkeit, über die eigenen Kräfte zu verfügen.« 71 Tatsächlich ist die Fähigkeit, über die eigenen Kräfte autonom zu verfügen, das Grundelement des menschlichen Lebens und damit auch ein Synonym für Würde. »Autonomie ist Selbstverwirklichung und Selbstbeschränkung … Eines ist ohne dasandere nicht denkbar. So stellt sich für jedes menschliche Wesen die Aufgabe, in Selbstverantwortung den Ausgleich zwischen Selbstverwirklichung und Selbstbeschränkung zu finden.« 72
Die verschiedenen Dimensionen von Autonomie (als persönliche Fähigkeit, als situative Disposition, als Charakteridee und als moralisches Recht) 73 werden in der Debatte um den Stellenwert selbstverantwortlicher Entscheidungen am Lebensende und der Möglichkeiten, dem Willen des Sterbenden zu entsprechen, noch immer zu wenig differenziert. Zudem muss zwischen Autonomie und Selbstbestimmung unterschieden werden. Selbstbestimmung ist die Möglichkeit, auf der Grundlage von Autonomie eigenverantwortlich für und über sich selbst zu entscheiden. Auch wenn das Recht auf Selbstbestimmung grundsätzlich ein Abwehrrecht ist, welches darauf verweist, dass nichts ohne Einwilligung des Betroffenen getan werden darf, geht es bei Entscheidungen im Falle nichteinwilligungsfähiger Menschen immer auch darum, deren Autonomie zu entsprechen.
Die Möglichkeit, Selbstbestimmung wahrzunehmen, ist eine wichtige Voraussetzung für schwerstkranke Menschen, die eigene Integrität und Identität zu schützen und zukünftige Lebenssituationen vorweg zu qualifizieren, indem beispielweise festgelegt wird, was im Falle von Komplikationen oder eingeschränkter Einwilligungsfähigkeit geschehen soll – insofern hat das Recht auf Selbstbestimmung für Entscheidungen im medizinischen Bereich zunehmend an Bedeutung gewonnen. Bis ins 20. Jahrhundert gehörte die Berücksichtigung der Selbstbestimmung nicht zu den ethischen Grundsätzen ärztlichen Handelns. Inzwischen ist die informierte Zustimmung, informed consent , eine unverzichtbare Voraussetzung für alle Eingriffe in die Integrität eines kranken Menschen. Der autonome Wille ist das letztlich entscheidende Kriterium.Allerdings wird es am Ende des Lebens, besonders dann, wenn sich Menschen nicht mehr mit Worten verständigen können, immer schwieriger, der Autonomie des anderen durch Beachtung verbaler Äußerungen gerecht zu werden. In solchen Situationen, wenn Entscheidungsmöglichkeiten immer weniger oder nicht mehr vom Patienten selbst wahrgenommen werden können und der Tod schon wartet, verlagert sich oft die Verantwortung für Entscheidungen im Rahmen einer partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung auf die Pflegenden und Ärzte in der Erwartung, dass sie den Willen oder zumindest den mutmaßlichen Willen des Patienten kennen, erkennen und respektieren. Aber wer hat schon gelernt, den Willen eines nicht mehr entscheidungsfähigen Menschen zu ermitteln? Patientenverfügungen und
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