Abschied braucht Zeit
die Grenze schmal.
Trotz allem Respekt vor einem individuellen Entschluss, das eigene Leben zu beenden, ist zu überlegen, ob nicht jeder Suizid auch ein Appell an unsere soziale Verantwortung und an die Defizite des menschlichen Miteinanders ist, 62 anstatt Ausdruck einer besonderen alters- oder krankheitsbedingten individuellen Morbidität.
Im US-Bundesstaat Oregon wurde 1994 ein Death with Dignity Act (DWDA) verabschiedet, um den ärztlich assistierten Suizid in Ausnahmesituationen zu ermöglichen. Innerhalb von zehn Jahren sind in Oregon 600 Rezepte für tödliche Medikation ausgestellt worden, davon haben fast 200 die zur Selbsttötung verschriebenen Medikamente letztlich nicht eingenommen. Ein Rezept für die tödlichen Medikamente bekommt in Oregon nur, wer an einer unheilbaren körperlichen Krankheit leidet, die nach Einschätzung von zwei Ärzten innerhalb von sechs Monaten zum Tod führt. Als häufigster Grund für die Suizidabsicht und Suizidhilfe wurden der Verlust von Autonomie oder der Verlust der Würde genannt. Nur wenige gaben an, dass die Kontrolle ihrer Schmerzen unzureichend gewesen sei. Über 86 Prozent der Menschen, die Suizidhilfe beantragt hatten, lebten in der Zeit vor ihrem Suizid jedoch in einem Hospiz oder Pflegeheim. Insgesamt lag der Anteil derer, die nach den Bestimmungen des Death With Dignity Act (DWDA) Suizid verübten, bei 0,1 Prozent aller Todesfälle.
Vor einigen Jahren begegnete ich einem jungen Mann mit einer fortgeschrittenen AIDS -Erkrankung und einer extremen Kachexie. Ein Infekt hatte ihn so geschwächt, dass er nicht mehr essen konnte. Für eine Antibiotikatherapie und um eine parenterale Ernährung zu ermöglichen, sollte er einen Port bekommen – eine wenig belastende invasive Maßnahme, die durchaus dazu beitragen konnte, seine Lebensqualität zu verbessern. Ich klärte ihn über den Eingriff auf, und im Laufe des langen und intensiven Gesprächs wurde sein großer Wunsch deutlich, doch wieder zu Kräften zu kommen. Aber Lebenswille und Lebenskraft standen in einem starken Missverhältnis zueinander. Herr K. wünschte eine sehr genaue Aufklärung über die technischen Details der Operation, bevor er zuversichtlich sein Einverständnis erklärte. Zweifel, die ihn beschäftigten, habe ich nicht bemerkt. Am nächsten Tag, an dem die Operation durchgeführt werden sollte, erfuhr ich, dass Herr K. kurze Zeit nach unserem Gespräch die Station verlassen hatte. Er war zu Freunden nach Dortmund gefahren.Zweifelnd und verzweifelt hätten die Freunde zusammengesessen, bis er sich schließlich in ihrem Beisein das Leben genommen habe. Einer seiner Freunde berichtete später, dass dieser Lebensabschied angesichts der Progredienz des Krankheitsgeschehens und der Aussichtslosigkeit schon länger geplant gewesen sei und in einer feierlichen und wohl sehr ergreifenden Atmosphäre stattgefunden habe. Herr K. hatte in Würde und im Kreise der Menschen sterben wollen, die ihm lieb und nahe waren, und nicht aufgrund medizinischer Behandlung oder Komplikationen im Krankenhaus. Ich war sehr betroffen, denn schließlich war ich sein letzter medizinischer Gesprächspartner gewesen und hatte das Gefühl gehabt, eine gute und sinnvolle Maßnahme empfohlen zu haben. Ich fühlte mich ausgeschlossen, und neben Respekt vor diesem Suizid ergriff mich ein merkwürdiges Gefühl der Hilflosigkeit und Schuld. Wie können wir die wahren Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle sterbenskranker Menschen erfassen und auch von ihrem Kranksein lernen? Gleichzeitig war ich aber auch dankbar und erleichtert, dass er mich nicht eingeweiht hatte, denn, wie hätte ich mich verhalten, wenn er mir gestanden hätte: Nein, ich brauche diesen Eingriff nicht mehr. Ich werde jetzt gleich zu meinen Freunden gehen und dort mein Leben beenden?
Gibt es nicht vielleicht doch eine moralische Rechtfertigung für die Bereitstellung einer tödlichen Medikation oder Methode zur Selbsttötung durch Ärzte? Kann das Wissen über die Verfügbarkeit einer Möglichkeit, das Leben durch eigene Hand zu beenden, die Lebensqualität so verbessern, dass z.B. das Verschreiben einer tödlichen Medikation als Lebenshilfe richtig ist und das Risiko des Suizids in Kauf genommen wird, ohne die Suizidhandlung durch eine solche Verschreibungtatsächlich zu beabsichtigen? Es ist eine paradoxe Situation, wenn die Durchführung des Suizids nicht intendiert, die Lebensgestaltung des autonomen Menschen aber durch die Möglichkeit, den Todeszeitpunkt
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