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Abschied braucht Zeit

Abschied braucht Zeit

Titel: Abschied braucht Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Christof Mueller-Busch
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bedeutsam – es ist die geistige oder spirituelle Dimension. Damit wird auch die Frage nach dem Sinn des Willens berührt. Trotz allen Wissens um neuronale Prozesse, Kausalität und Bewusstseinsentstehung bleibt der Sinn des Willens natürlich in der Regel verborgen und eröffnet sich allenfalls intuitiv. Wenn wir z.B. plötzlich wie vom Blitz getroffen ohne die Zwischenschritte des Fühlens, Denkens und Bewusstseins spontan etwas tun, das im Nachhinein bestimmend und prägend für unser Leben sein wird, so haben wir dafür oft keine rationale aber unter Umständen eine »sinnvolle« Erklärung. Häufiger sagen wir dann: Irgendwiemuss es doch mein Wille gewesen sein. Manche Menschen scheinen den Zeitpunkt ihres Todes und die Art des Sterbens auf ganz »eigenwillige« Weise zu wählen – vielleicht auch ein Hinweis auf die spirituelle Dimension des Willens.
    Wenn es bei einem nicht entscheidungsfähigen Menschen um die Willensbestimmung geht, sollte also beachtet werden, ob es sich um einen primär – d. h. von Geburt an – entscheidungsunfähigen Menschen handelt oder um einen Menschen, der die Entscheidungsfähigkeit im Laufe seines Lebens infolge einer Erkrankung oder durch eine Verletzung verloren hat. Ein von Geburt an schwerstbehinderter Mensch ist sein ganzes Leben auf die Hilfe anderer angewiesen. Selbstbestimmung, zumindest in dem Sinne, wie die meisten Menschen sie verstehen, können solche schwerstbehinderten Menschen nie wahrnehmen. Dennoch können mit einem starken Lebenswillen durchaus kritische Phasen überstanden werden. Aber es ist nie ein durch denkbare Möglichkeiten selbst bestimmter Wille. Es gibt für einen von Geburt oder früher Kindheit an zerebral schwerstgeschädigten Menschen keine an andere Menschen vermittelte, freie und selbstbewusste Lebenswertbestimmtheit. Die Verwirklichung von Autonomie kann sich immer nur in Abhängigkeit vollziehen.
    Insofern geht es in der Arzt-Patienten-Beziehung neben der Respektierung von Autonomie immer auch um die Auseinandersetzung mit dem Willen. Immer mehr Menschen fürchten, am Lebensende mit ihren Vorstellungen und Entscheidungen zu Behandlungen bei Demenz oder schwerster zerebraler Schädigung nicht ausreichend beachtet zu werden. Sicherlich versucht nur eine Minderheit, durch Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen Handlungshinweise zu geben, die meisten vertrauen auf den guten Arzt, der schon weiß, was richtig ist, was man will …
    In sterbenahen Situationen versuchen die Ärzte, situativeWillensäußerungen oder Reaktionen mit früheren verbalen oder schriftlichen Willensbekundungen des Patienten in Beziehung zu setzen, aber auch mit den eigenen und allgemeinen Wertvorstellungen und Überzeugungen. Eine wichtige und nicht eindeutig beantwortete Frage ist dabei, inwieweit gestische und körpersprachliche Äußerungen bei nicht entscheidungsfähigen Menschen einen höheren Stellenwert für lebensbegrenzende Entscheidungen haben als frühere Erklärungen, mit denen die besondere Situation der Nichteinwilligungsfähigkeit vorweg qualifiziert wurde. In der Regel konzentrieren sich die Ärzte meist darauf, den Willen in seiner biologischen Dimension zu erfassen, d.h. das biologische Sterben zu diagnostizieren. Dennoch geht es auch darum, den Willen in seiner sozialen oder gar spirituellen Dimension zu verstehen und zu respektieren.
    Die Ermittlung des (mutmaßlichen) Patientenwillens in Situationen, in denen Selbstbestimmungsfähigkeit eingeschränkt oder nicht vorhanden ist – und das ist in Todesnähe eigentlich immer der Fall –, ist ein Grundelement einer an humaner Partnerschaft orientierten palliativen Medizin, Pflege und Sterbebegleitung. Allerdings sind die meisten Ärzte hierzu nicht ausreichend ausgebildet, so dass sie diese wichtige Aufgabe aktuell einfach nicht leisten können. Die häufig rein fachorientierte Spezialisierung auf Krankheiten, Organe und Funktionen in der Medizin behindert eine menschenkundliche Orientierung, die die Frage zulässt, was will dieser Mensch eigentlich in dieser besonderen Situation und was kann ich tun, um seine Autonomie zu fördern und zu unterstützen? Sich im Fall der Irreversibilität einer Erkrankung und am Ende des Lebens mit dem antizipierten Willen auseinanderzusetzen bedeutet, den Betroffenen mit seinen individuellen und spezifischen Wertvorstellungen zu würdigen. Patientenverfügungen, in denen das Leben und auch das Sterben selbstbestimmt oder selbstbestimmend vorweg qualifiziert wurden,

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