Abschied braucht Zeit
benötigen immer eine situative Bewertung. Dabei geht es darum, die situativen Hinweise auf den aktuellen Willen in Beziehung zu antizipierten Willensbekundungen zu setzen. Diese können als Bestätigung der Fortdauer, im Ausnahmefall aber auch als Widerruf antizipierter Willensfestlegungen gedeutet werden. Die Interpretation und Bewertung von Patientenverfügungen in der aktuellen Situation benötigt deshalb immer den Dialog mit Angehörigen, Vorsorgebevollmächtigten oder Betreuern. Nur so gelingt es, Orientierungen und Konsens für verantwortbare, d.h. vor allem auch transparente Entscheidungen zu finden und die Identität des anderen in seinem biographischen Gesamtzusammenhang zu akzeptieren.
Patientenwille, Prognose, medizinische Indikation und Behandlungsziel als Grundelemente für gutes Entscheiden in sterbenahen Situationen entziehen sich letztlich einem juristischen Schema, welches nur ja oder nein oder einseitige Verantwortlichkeiten kennt. Zur Ermittlung und Festlegung des Willens ist immer ein kommunikativer Prozess notwendig.
Frau R., 76 Jahre und eine selbstbewusste, überaus aktive und engagierte Unternehmerin, hatte eine notariell beglaubigte Patientenverfügung mit detaillierten Willensbekundungen und Handlungsanweisungen für alle Eventualitäten formuliert. Ihr 45-jähriger Sohn wurde als Vorsorgebevollmächtigter benannt. Drei Monate danach kam es bei Frau R. zu einem schweren Verkehrsunfall mit Hirnverletzungen und kompletter irreversibler Querschnittlähmung im oberen Halsmarkbereich, so dass sie mit einem speziellen Beatmungsgerät andauernd beatmet werden musste. Eine eigene Nahrungsaufnahme war nicht möglich, nach intensiven Rehabilitationsversuchen gelang eine minimale Verständigung mit einfachen Ja/Nein-Codes durch Augenbewegungen. Acht Monate nach dem Unfall wurde Frau R. in ein Pflegeheim verlegt, das speziell auf dauerbeatmete Patienten eingestellt war. Obwohl erhebliche Tagesschwankungen im Wachheitsgrad bestanden, äußerte sich Frau R. immer wieder und mit wiederholter Entschiedenheit dahingehend, dass sie eine Fortführung der lebenserhaltenden Beatmung nicht mehr wünschte. Da Frau R. nach Einschätzung zweier neurologischer Gutachter trotz der schwersten neurologischen Defizite als entscheidungsfähig angesehen wurde, kam die Patientenverfügung nicht zum Tragen – vielmehr konnte Frau R. selbst entscheiden, ob sie die lebensverlängernde Therapie wünschte oder nicht. Die Mitarbeiter des Pflegeheims lehnten den Abbruch der lebenserhaltenden Beatmungstherapie aus weltanschaulichen Gründen ab.
Im Einverständnis mit seiner Mutter und mit Hilfe eines Rechtsanwalts bemühte sich der Sohn um Verlegung in eine andere Klinik, um die gegen den Willen seiner Mutter durchgeführte Beatmung zu beenden und das dann sehr rasch absehbare Sterben an einer Ateminsuffizienz angemessen – notfalls durch Sedieren – zu begleiten. Als zwei Jahre nach dem Unfall eine solche Verlegung in Aussicht war, wurde eine Veränderung in der bisher konstant und beharrlich ihren Willen bekundenden Mutter festgestellt. Die bisher als eindeutig ablehnend beurteilte Haltung hatte sich in eine eher ambivalente, unentschiedene Einstellung gewandelt. Wiederholte Fragen, ob die Beatmung beendet werden sollte, wurden mit einem gestischen »Ich weiß nicht« beantwortet – ein Widerruf der Patientenverfügung erfolgte nicht. Wollte oder konnte Frau R. das Sterben doch nicht akzeptieren?
Eine schwierige und emotional belastende Situation für alle Beteiligten, die aber auch zeigt, dass sich Entscheidungskonflikte, die sich am Willen zu orientieren versuchen, nicht allein durch Rechtsklarheit regeln lassen. Wären Entscheidungen einfacher gewesen, wenn die Gültigkeit des in der Patientenverfügung formulierten antizipierten Willens nicht durch die aktuellen Willensäußerungen in Frage gestellt worden wäre? Ist der tatsächliche, aktuell empfundene, situative »natürliche« Wille des sterbenskranken, willens- aber nicht entscheidungsfähigen Menschen der wirkliche, der vorrangig gültige?
Frau R. lebte mehr als fünf Jahre in einer für alle anderen unvorstellbaren Pflegeabhängigkeit: vom Hals abwärts gelähmt, künstlich beatmet und künstlich ernährt; eine Kommunikation mit ihr war nur durch Blickkontakte möglich. Gedanken an den Tod wies sie von sich. Mit ihrem Wunsch, das Beatmungsgerät abzuschalten, konnte oder wollte sie sich nicht mehr beschäftigen. Irgendwann starb sie an Erschöpfung und
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