Abschied braucht Zeit
Vorsorgevollmachten sind ein wichtiges Hilfsmittel, aber sollen sie den Handlungsspielraum der Arzt-Patienten-Beziehung bis zu den Forderungen nach dem Recht auf einen eigenen Tod auch zwingend bestimmen? Beinhaltet die Forderung nach Autonomie und der Beachtung von Selbstbestimmung nicht auch die Suche nach Hilfe bei Entscheidungen im Spannungsfeld der Möglichkeiten der modernen Medizin 74 und bei der Frage, welche Kriterien für deren humanen Einsatz gefunden werden können? In diesem Sinne hat der Respekt vor Autonomie im Laufe der letzten 100 Jahre an Bedeutung gewonnen, auch in der medizinischen Beurteilung dessen, was für den Patienten gut ist oder ihm schaden könnte. Dennoch ergeben sich in der Beachtung von Selbstbestimmung im Alltag immer wieder Konflikte, besonders wenn sich in fortgeschrittenen Erkrankungssituationen die Meinungen über den weiteren Verlauf und zur Durchführung oder Begrenzung medizinischer Maßnahmen ändern. So stellt sich im Umgang mit der Selbstbestimmung des Patienten auch die Frage, inwieweit fortwirkende Willensbekundungen die situativ verantwortete eigeneUrteilsbildung des Arztes ersetzen können und Entscheidungen erleichtern? Welche Kompetenz und welche Orientierungsmöglichkeiten haben die Betroffenen und gegebenenfalls ihre Stellvertreter, um die Konsequenzen medizinischer Entscheidungen in Grenzsituationen zu beurteilen?
Ein weiteres wichtiges Recht des Schwächeren ist die Anerkennung seiner Scham. Scham ist einerseits ein sehr privates, intimes Gefühl, anderseits ruft Scham wie kaum ein anderes Gefühl Betroffenheit hervor, besonders dann, wenn sie mit Schuldgefühlen und Trauer verbunden ist. Scham bei sterbenskranken Menschen ist neben deren Trauer wohl dasjenige Gefühl, das am wenigsten beachtet und am schwierigsten verstanden und akzeptiert wird. Wie häufig, ja fast zwangsläufig verletzen wir die Scham unserer Patienten, auch wenn wir nur ihr Bestes wollen? Wie und wann können wir es zulassen, dass sich Sterbende in eine eigene Welt zurückziehen und nicht gestört werden wollen? Im Sterben unter Scham zu leiden ist mindestens genauso schlimm wie unter Schmerzen zu leiden. Sterbende zu verstehen bedeutet deshalb auch ihre Scham zu respektieren und ihr respektvoll zu begegnen.
Die Achtung der Scham manifestiert sich nicht nur im gefühlvollen Umgang und der Beachtung des Intimen. Sie erfordert in besonderer Weise ein Eingehen auf Tabus und Verborgenes, eine verständige Kommunikation und Aufklärung. Aufklärung von Sterbenskranken und deren Angehörigen ist nicht nur ein Mitteilungsakt, der erledigt werden muss, und beinhaltet nicht nur die ehrliche Offenbarung eines Sachverhalts. Wahrheit im Angesicht des Todes bedeutet in besonderer Weise auch, Haltung zu zeigen. Die Wahrheit erzeugt eine Gemeinsamkeit zwischen dem Mitteilenden und dem Empfangenden, die sie miteinander verbindet, einander verpflichtet und in eine Beziehung setzt, die miteinander ausgehaltenund gestaltet werden muss. Dabei schließen Wahrheit und Hoffnung sich natürlich nicht aus, auch wenn der Optimismus, der sterbenskranken Menschen häufig entgegengebracht wird und den sie auch selbst manchmal zeigen, nicht selten eine Maske ist, die die Angst verbirgt, sich offen und ehrlich miteinander einzulassen. Ärzte haben jedoch immer noch häufig Furcht davor, der Patient könnte die ganze Wahrheit nicht vertragen – besonders, wenn diese Bereiche der Scham berührt, so dass sie sie nur dosiert anbieten oder gerne auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Einfacher wird der Umgang mit der Wahrheit dadurch nicht. Sicherlich sollte der Wunsch von Patienten, keinerlei Informationen zu bekommen, respektiert werden – aber verbirgt sich gerade hinter solchen Wünschen nicht häufig bereits eine Ahnung? Schamhaftes Schweigen ist keine gute Haltung. Untersuchungen bei Brustkrebspatientinnen in den USA zeigten, dass eine gute und frühzeitige Kommunikation über die Prognose einer möglicherweise zum Tode führenden Erkrankung, über existentielle und spirituelle Fragen Ängste und Verzweiflung bei den Betroffenen zunächst zwar verstärkte, der weitere Verlauf der Behandlung allerdings zumeist weniger belastend verlief als bei den Patientinnen, bei denen solche Gespräche nicht erfolgten.
Schließlich möchte ich noch auf einen weiteren – und vielleicht sogar den wichtigsten – Aspekt in der Beziehung zwischen Arzt und Patient eingehen. Die Beachtung der Scham sowie des Rechts auf
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