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Abschied braucht Zeit

Abschied braucht Zeit

Titel: Abschied braucht Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Christof Mueller-Busch
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reanimiert werden. Es dauerte lange, bis sein Herz wieder selbst zu schlagen begann. Die Ärzte sagten: Nun müssen wir sehen, welchen Lebenswillen er hat. Igor konnte sich nie artikulieren, nie verbal verständigen, nie selbständig es-sen, sich nie selbständig anziehen, nie laufen – er litt an schwersten Krampfanfällen und einer spastischen Lähmung. Und doch war er ein Mensch mit einem – wie es schien – außerordentlich starken Willen, einem Lebensimpuls. Er hatte Kräfte und konnte sich wehren, wenn ihm die Körper- und Mundpflege nicht passte, wenn die Blase nicht rechtzeitig geleert wurde oder wenn ihn Geräusche beunruhigten. Er wirkte entspannt, wenn er Musik hörte oder massiert wurde. Er zeigte mimische und reflexartige, situationsbezogene Willensbekundungen, die immer wieder auch darauf gerichtet schienen, Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Dank seines starken Lebenswillens überstand er viele kritische Phasen in seinem immer wieder von Infektionen, Lungenentzündungen, Knochenbrüchen und Operationen bestimmten Leben. Er wurde groß und erwachsen, und es wurde immer schwieriger, ihn zu pflegen, bis seine Mutter sich um einen Pflegeplatz in einer Spezialeinrichtung bemühte, weil es zu Hause einfach nicht mehr ging. Sie konnte nur sehr selten verreisen, und auch immer nur dann, wenn ein kompetentes Pflegeteam für Igor zur Verfügung stand. Ihre letzte Reise vor IgorsTod hatte sie besonders gut vorbereitet, denn sie war zunehmend in Sorge, dass etwas passieren könnte, während sie fort war. Wie oft schon hatte sie geträumt, dass Igor starb, weil eine Komplikation nicht rechtzeitig entdeckt worden war oder nicht mehr beherrscht werden konnte. In den letzten Wochen vor ihrer Reise hatte ihr Sohn sich verändert – er war ruhiger geworden, entrückter, fast friedlich. Am Tag vor ihrer Abreise starb er, fast heimlich im Schlaf – als ob er es so gewollt hätte.
    Beim Phänomen des menschlichen Willens lassen sich drei Dimensionen unterscheiden, die auch für die ärztliche Willensbestimmung und Entscheidungsfindung bei nicht entscheidungsfähigen Menschen hilfreich sein können. Da ist zunächst die biologische oder vielleicht noch präziser die neurobiologische Dimension. Auch ein Mensch mit einer schweren zerebralen Schädigung ist ein willens- wenn auch natürlich kein entscheidungsfähiger Mensch. Die Kontroverse zwischen Neurowissenschaftlern und Philosophen um die Willensfreiheit und Entscheidungsfähigkeit in Grenzbereichen des Bewusstseins und der Bewusstheit ist im Grunde nur ein Streit um Kategorien, die für konkrete Entscheidungssituationen im Dialog mit den Beteiligten wenig hilfreich ist. Wenn Willensdeterminiertheit wenig oder gar keinen Einfluss auf das konkrete Handeln hat, so können sich für die Beurteilung von Schuld und Verantwortung durch eine deterministische Willensdefinition trotzdem weitreichende Konsequenzen ergeben. Wer trug die Verantwortung bei Igor, der sehr wohl willensfähig war, bei dem sich die Verwirklichung von Autonomie jedoch immer nur in einer extremen Abhängigkeit vollziehen konnte?
    Die zweite Dimension des Willens ist seine soziale Bedeutung. Der Wille eines Menschen erlangt immer nur Bedeutung im Bezug zu anderen, d. h. indem er sich in sozialen Beziehungen verwirklicht. Auch wenn der Mensch als Subjekt Verantwortung für das eigene Handeln und Verhalten übernehmen kann und muss, berührt die Umsetzung des Willens und dessen Folgen immer auch andere. Am deutlichsten wird das vielleicht am Beispiel des Suizids – wo ja Willensumsetzung in einer das Selbst zerstörenden Form immer in einem besonders hohen Maße auch andere berührt. Auch bei Igor finden wir die soziale Dimension, in der sich seine Willensbekundungen erst im Austausch mit anderen Menschen konkretisieren konnten. Dabei wird deutlich, wie sehr die soziale Dimension seines Willens auch die Wertbestimmung seines Lebens durch andere berührt hat, so dass sich die Frage stellt, inwieweit für die Respektierung des Willens bei Behinderten eine gesellschaftliche Verantwortung und Schutzfunktion notwendig ist. Igor zeigte durchaus heftige, stark vegetativ gekennzeichnete Willensreaktionen, z.B. Schwitzen, vermehrten Speichelfluss und Temperaturreaktionen – eine Beobachtung, die bei zerebral schwerstgeschädigten Menschen immer wieder gemacht werden kann.
    Die dritte Dimension des Willens ist wohl nur durch Annäherung zu vermitteln, aber sie ist dennoch für eine umfassende Willensbestimmung

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