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Abschied braucht Zeit

Abschied braucht Zeit

Titel: Abschied braucht Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Christof Mueller-Busch
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Selbstbestimmung im Angesicht des Todes bedeuten nämlich auch, sich mit der Dimension des Willens, die einen Sterbevorgang aus anthropologischer Sicht kennzeichnen, auseinanderzusetzen. Auch der Wille zum Tod gehört zum Sterben. Willentliche Selbstbestimmung in diesem Zusammenhang manifestiert sich jedoch nicht nur inder Freiheit oder der Möglichkeit, Hand an sich zu legen, um den Tod zu finden, sondern auch darin, sich seiner letztlich unausweichlichen Bestimmung anzunähern. Könnte es nicht sein, dass so, wie das Ungeborene letztlich seinen Geburtstermin, auch der Sterbende seinen Todeszeitpunkt findet? Ist dieser Wille nicht auch ein Kriterium für ein stimmiges Sterben? Achtung vor Scham und Patientenwille bedeutet, den vielfältigen Empfindungen, die das Sterben begleiten, Raum zu geben und damit auch der affektiven Dimension des Sterbeerlebens gerecht zu werden.
    Wie bereits erwähnt, hat das Instrument des Willens in den letzten 50 Jahren zur Legitimation des Handelns in der Medizin eine zunehmende Bedeutung erlangt. So kommt bei medizinischen Entscheidungen, die immer das Wohl des Patienten zum Ziel haben müssen, der Ermittlung und Berücksichtigung des Patientenwillens eine zentrale Bedeutung zu. Alles, was man aus ärztlicher Indikation zum intendierten Wohl des Patienten zu tun beabsichtigt, bedarf seiner informierten oder einvernehmlichen Zustimmung. Insofern ist die Beschäftigung mit dem Willen des Patienten eine Grundbedingung des ärztlichen Handelns geworden.
    Um dem Willen des Patienten gerecht zu werden, ist allerdings zwischen Entscheidungsfähigkeit und Willensfähigkeit zu differenzieren. Während für den entscheidungsfähigen Patienten die Möglichkeit besteht, selbst bestimmte Grenzen zu ziehen, ist die Willensorientierung durch andere bei nicht mehr entscheidungs- und selbstbestimmungsfähigen Menschen immer mit Unsicherheiten verbunden. Der Wille ist ein in besonderem Maße situativ bestimmtes Konstrukt, weshalb auch die Bedeutung von Patientenverfügungen, die als antizipierte Willensbekundungen in Grenzsituationen fortwirkend respektiert werden sollen, innerhalb der Ärzteschaft so kontrovers diskutiert wird.
    Viele Fragen drängen sich auf, wenn man über ein Phänomen, das begrifflich mit »Willen« umschrieben wird, nachzudenken beginnt. Was hat das Wollen mit Wählen oder gar mit Wohl zu tun? Das Wollen eines Menschen stellt zwar einen Grundprozess des auf die Zukunft gerichteten Handelns, aber auch des menschlichen Bewusstseins dar. Die verschiedenen Theorien des Willens sind deswegen immer auch untrennbar mit den Theorien der Bewusstseinsentstehung und -funktion verbunden. Insofern ist es schwierig, nach dem Willen zu suchen, wenn wir nichts oder nur wenig über das Bewusstsein wissen. Die prinzipiellen Schwierigkeiten der Willensorientierung liegen auch darin begründet, dass Wille letztlich nicht definierbar ist, so dass es eigentlich auch schwierig ist, vom fehlenden oder eingeschränkten oder mutmaßlichen Willen zu sprechen, wenn eine tragfähige Definition des vorhandenen Willens fehlt.
    Wenn sich Ärzte also dem Willen des Patienten anzunähern versuchen, so verlassen sie rein medizinisches Gebiet und begeben sich auf ein Terrain, das Philosophie, Geisteswissenschaften, Rechtswissenschaft und Naturwissenschaften schon immer beschäftigt hat und auch jetzt aufs Lebendigste beschäftigt, wohl weil der Wille neben dem Fühlen und Denken eine der drei wesentlichen Fähigkeiten darstellt, die den Menschen als besonderes Wesen kennzeichnen. Was aber ist der Wille, den Ärzte suchen, und wie entsteht er? Ist es ein Urinstinkt oder ein besonderer Lebensimpuls? Etwas, das unabhängig von oder vor dem Fühlen und Denken entstanden ist und im Laufe der Entwicklung von diesen begleitet und modifiziert wurde? Oder ist die Willensfähigkeit und Willensverantwortung ein Charakteristikum des bewussten, des denkenden und fühlenden Menschen? Und welcher Wille ist es, den Ärzte in der Beziehung zum Patienten besonders beachten und berücksichtigen müssen?
    Igor starb kurz vor seinem 24. Geburtstag. Von Geburt an war er schwerstbehindert und immer auf die Hilfe anderer angewiesen gewesen, vor allem seiner Mutter, die ihn bis zu seinem Tod zu Hause gepflegt hat. Selbstbestimmung, zumindest in dem Sinne, wie die meisten Menschen sie verstehen, konnte er nie wahrnehmen. Igor war ein Zwillingskind, er kam mit den Symptomen schweren Sauerstoffmangels unter der Geburt zur Welt und musste

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