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Abschied und Wiedersehen

Abschied und Wiedersehen

Titel: Abschied und Wiedersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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und Mördern unter einem Dach zu leben. Ich hätte keine ruhige Minute...«
    Wir standen noch nicht lange auf der Straße, da kam aus der Tür des Landgerichts, in ein großes gestricktes Umschlagtuch gehüllt, eine weißhaarige alte Dame auf uns zu. Sie sah so würdig und vornehm aus, daß ich sie für die Frau vom Landgerichtspräsidenten hielt.
    »Ach, bitte«, sagte sie zu Mutter, »Sie frieren sich hier ja zu Tode, und Ihr Jungchen sieht schon ganz blaß aus. Mein Name ist Ewert, und mein Mann verwaltet hier die Gebäude. Ihrem Herrn Gemahl habe ich schon ein Glas heißen Tee vorgesetzt, mit einem kleinen Schuß Schnaps... Ein Vetter von mir hat in der Nähe einen Hof - und das Brennrecht dazu. Es ist zwar nur ein Rübenschnaps, aber er wärmt, und ein bißchen Wärme werden auch Sie brauchen können...«
    Mutter zögerte, aber nicht lange, und dann folgten wir Frau Ewert über eine überdachte Halbtreppe und durch eine hohe Doppeltür in einen langen, hallenden Gang, bis wir zu einer Treppe kamen, auf der man über wenige breite Stufen ins Erdgeschoß gelangte. Es war keine richtige Kellerwohnung, in die uns die alte Dame führte, denn die Fenster lagen einen guten halben Meter über dem Erdboden, gerade, daß die Dielen sich ein wenig unter dem Straßenniveau befanden. Es war eine gemütliche Wohnung, und der weiße Kachelofen strahlte behagliche Wärme aus. Neben dem Ofen lag der Tagesbedarf an Torf sauber aufgeschichtet in einer flachen Kiste. Vater saß mit offenem Mantel auf einem Sofa mit geschwungener Lehne, vor sich einen runden Tisch, auf dem über einer blauen Spiritusflamme ein blankgeputzter Samowar aus Messing summte, aus dessen Hähnchen Herr Ewert Vaters Teeglas zum zweiten Mal füllte. Herr Ewert trug, wahrscheinlich noch vom sonntäglichen Kirchenbesuch her, einen schwarzen Gehrock und sah mit seinem vollen, schneeweißen Scheitel und der fülligen, großen Figur noch würdevoller und respekteinflößender aus als unser Hausmeister vom Friedrichskolleg, Herr Seyfried, dem wir fast mit der gleichen Ehrfurcht begegneten wie unserm Geheimrat. (Merkwürdig - oder gar nicht merkwürdig -, daß ich in späteren Jahren vielen Hausmeistern begegnet bin, die ihren Vorgesetzten von der Würde des Gebarens bis zur sprachlichen Ausdrucksform nicht nur nacheiferten, sondern sie in ihren Manieren zuweilen sogar übertrafen.) Der von Frau Ewert erwähnte Vetter vom Lande schien die beiden jedenfalls gut über die Hungerjahre gebracht zu haben. Wir wurden genötigt, auf Polsterstühlen Platz zu nehmen, Frau Ewert eilte mit zwei Teegläsern herbei, schenkte uns dampfend heißen Tee aus dem Samowar ein, würzte Mutters Tee mit einem Eßlöffel voll Schnaps, süßte mein Glas mit einem Schuß Kirschsaft und stellte einen Teller mit Streuselkuchen auf den Tisch, den sie kurz zuvor aus dem Rohr genommen hatte, denn er war noch warm. Mutter zierte sich ein bißchen, ehe sie Zugriff. Mich brauchte niemand zu nötigen. Solch einen guten Streuselkuchen hatte es nicht einmal bei Frau Kallweit gegeben; die knusprige Streuselschicht war aus echter Butter zubereitet! Vater warf mir scharfe Blicke zu, mich zu mäßigen und den Teller nicht ratzekahl leer zu fressen, doch bei diesem Kuchen konnten mich Blicke allein nicht ducken. Und als dann Frau Ewert einen Teller mit kalten Bratklopsen auf den Tisch stellte, da wäre es an mir gewesen, Vater mit drohenden Blicken zur Mäßigkeit zu mahnen, aber Frau Ewert verstand es, wie es bei der breiten ostpreußischen Lebensart Gästen gegenüber üblich war, ihn so herzlich zu nötigen, daß er zwar murmelte, nun sei es aber wirklich genug - bis er den letzten von den fünf Klopsen intus hatte.
    Wenn Vaters Blick zu Mutter hinüberirrte, dann schien dieser Blick jedesmal zu sagen: Sieh dir nur an, wie die Leute leben! - Ob auch Mutter durch die freundliche Bewirtung zur Einsicht gelangt war, daß das Bartensteiner Pflaster recht nahrhaft zu sein schien, ist nicht auszuschließen, denn nachdem wir uns bei Philemon und Baucis Ewert eine halbe Stunde lang erwärmt hatten, meinte Mutter plötzlich zu Vaters und auch zu meiner nicht geringen Überraschung, sie möchte nun doch nicht heimfahren, ohne sich die Räume im Amtsgericht angesehen zu haben. Man hätte es über einen langen Flur durch den Gefängnistrakt erreichen können, aber Herr Ewert unterließ es taktvoll, uns auf diesem Wege zu führen. Er begleitete uns über die Straße zum anderen Flügel und sperrte dort die schwere

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