Abschied und Wiedersehen
Schluchzen in der Stimme.
Vater hob den Kopf, als hätte er nicht recht gehört: »Was hast du da gesagt, Linchen?«
»Daß er hier in die Schule gehen wird.«
»Nein!« sagte Vater entschieden, »ihr beide bleibt in Königsberg! Ihr bleibt dort so lange, bis ich eine Wohnung für uns gefunden habe. Und wenn das ein Jahr oder noch länger dauert! Ich sehe es selber ein, die Wohnung im Amtsgericht ist keine Wohnung, sondern eine Zumutung. Das sind keine Zimmer, das sind Verhandlungssäle. Wir könnten sie gar nicht möblieren. Und was die Öfen an Torf fressen, da müßten zwei Mann von früh bis spät unterwegs sein, um den Torf aus dem Keller raufzuschleppen.«
»Das wäre nicht das Schlimmste, wenn ich ein Mädchen bekäme«, sagte Mutter; »aber der Gedanke, da vielleicht in der Nacht mit einer Kerze in der Hand durch den stockdunklen Korridor aufs Klo zu müssen, wo hinter jeder Tür ein Mörder lauern könnte...!« sie griff sich an den Hals und schloß die Augen, als spüre sie die Mörderklauen bereits an ihrer Kehle.
»Aber Linchen«, sagte Vater mit einer Baß-Stimme wie der Weihnachtsmann, »da sitzen doch nur ein paar kleine Halunken ihre Strafe ab, die man wegen Diebstahl oder wegen irgendwelcher Betrügereien hinter Gitter gesperrt hat, aber doch keine Mörder und sonstigen Schwerverbrecher. Die kommen nach Insterburg ins Zuchthaus. Aber was machst du dir darüber überhaupt Gedanken? Was ich gesagt habe, habe ich gesagt: ihr beide bleibt in Königsberg!« Es klang unwiderruflich, aber die Schwermut in Vaters Stimme war auch nicht zu überhören. Ich weiß nicht, ob Vater sonst viel diplomatisches Geschick besaß, ich möchte es eher bezweifeln, aber Mutter gegenüber zeigte er sich als ein Meister diplomatischer Künste.
»Du als möblierter Herr...«, sagte sie und schneuzte den letzten Rest von Tränen und anderer Feuchtigkeit in ihr Taschentuch, »in einem fremden Bett und auf den Gasthausfraß angewiesen, der einem heute vorgesetzt wird«, sie schob den kleinen Gulaschrest, der noch auf ihrem Teller lag, angewidert von sich fort, »nein, das kommt überhaupt nicht in Frage! Hier würdest du mir eingehen, und ich habe keine Lust, den Rest meiner Tage als Witwe zu verleben! Also sorge dafür, daß die Dielen und Wände gestrichen werden, und wenn es soweit ist, kannst du den Möbelwagen bestellen.«
Vater zog die Pfeife aus der Tasche und füllte den Kopf mit dem Steinklee, den wir im Sommer geerntet hatten, eine Spur von Tabak war auch dabei: »Also, Linchen, wenn du durchaus willst«, sagte er aus einer blauen, aromatischen Rauchwolke heraus, »dann in Gottes Namen. Aber mach mir später keine Vorwürfe, wenn du in der Suppe Haare findest.«
Nun, die Haare waren schon in der Suppe, bevor sie auf dem Feuer stand. Auf Mutter kamen eine Menge Probleme zu. Womit sollte man die Riesenzimmer möblieren? Woher die Gardinen für die breiten und überhohen Fenster nehmen? Ans Tapezieren der Wände war überhaupt nicht zu denken. Und wo war der Maler, der noch gute Ölfarben für den Anstrich der seit undenklichen Zeiten nicht mehr gestrichenen Dielen besaß? Mutter pendelte in den folgenden Wochen ständig zwischen Königsberg und Bartenstein hin und her. Den Eintopf kochte sie in Töpfen vor, die Hotel-Küchen-Format besaßen; ich brauchte das Essen nur anzuwärmen und für Vater und mich auf den Tisch zu stellen. Einmal fuhr Mutter auch nach Lyck, und sie hatte keine große Mühe, Großmutter zu überreden, ihre kleine Wohnung in Lyck aufzugeben und mit den wenigen Möbeln, die sie noch besaß, zu uns zu ziehen. Großmutter war damals vierundsechzig, in meinen Augen eine uralte Frau, aber sie war mobil wie eh und je. Hunger und Grippe hatten viele ihrer alten Freunde und Bekannten hinweggerafft, nicht aber Herrn Cabalzar, den Fleischer Turek und den Kaufmann Wrobel. In dem Reisekorb, mit dem sie bald nach unserer Übersiedlung nach Bartenstein zu uns stieß, befanden sich ein kleiner Sack mit Zucker, ein größerer mit gutem Weizenmehl und - wir bestaunten ihn wie das Wunder zu Kana - ein mächtiger geräucherter Schweineschinken. Vater aber überreichte sie mit einem Gruß von Herrn Cabalzar mit dessen besten Wünschen zum Einstand als altem, hochgeschätztem Stammkunden eine Flasche Jamaica-Rum. Da wurden Vaters Augen feucht...
Am letzten Schultag vor den Osterferien nahm ich von den Freunden und von den Brüdern vom Excentric-Club Abschied. Er fiel mir nicht leicht. Wir erneuerten die
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