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Abschied und Wiedersehen

Abschied und Wiedersehen

Titel: Abschied und Wiedersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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reden...«
    »Ich will es auch gar nicht so genau wissen. So neugierig bin ich nun auch wieder nicht.«
    Jemand klopfte an die Tür.
    »Komm nur herein, Mama!« rief Frau Fleming.
    Die alte Dame war gekommen, um Frau Fleming daran zu erinnern, daß es sechs Uhr sei und daß das Abendessen auf dem Tisch stände.
    »Ich komme sofort, Mama, ich bringe nur noch unsern Gast zur Tür.«
    »Lassen Sie sich doch wieder einmal sehen«, sagte die alte Dame, als ich mich von ihr verabschiedete. Es klang freundlich, aber recht unverbindlich, und ich unterließ es lieber, mich für die Einladung zu bedanken. Frau Fleming begleitete mich mit dem Flurleuchter in der Hand in den kleinen Vorraum hinaus, wo ich in meinen Mantel schlüpfte. Sie stellte den Leuchter auf seinen Konsolenplatz vor den Spiegel: »Bevor Sie gehen«, sagte sie, »werden Sie mir den schrecklichen Werther geben - bitte!«
    »Wenn Sie darauf bestehen, gnädige Frau...« Ich zog das Buch aus der Manteltasche. Erst als sie es in der Hand hielt, fielen mir die Zeilen ein, die ich auf das Vorsatzblatt geschrieben hatte.
    »Sie müssen es mir noch einmal geben, gnädige Frau!«
    »Warum denn?«
    »Ich habe da etwas hineingeschrieben«, stammelte ich in tödlicher Verlegenheit, »was niemand etwas angeht.«
    »Auch mich nicht?« fragte sie sanft.
    »Sie werden mich auslachen, wenn Sie es lesen.«
    »Ich verspreche Ihnen, daß ich nicht lachen werde.«
    Sie reichte mir die Hand, als ob sie ihr Versprechen bekräftigen wolle: »Besuchen Sie mich gelegentlich, wenn Sie nichts Besseres vorhaben...« Es klang nicht so, als ob sie nur eine unverbindliche Redensart ausgesprochen habe.
    »Darf ich Sie wirklich Wiedersehen?«
    »Warum denn nicht? Und es ist auch nicht nötig, daß Sie auf mich auf dem Friedhof warten. Wenn Sie also mit mir zwischen vier und fünf Uhr ein Glas Tee trinken wollen... Ich bin um diese Zeit immer zu Hause.«

    Ich lief wie in einem Rauschzustand über den dunklen Anger nach Hause. Noch Tage und Wochen nach dieser ersten Begegnung mit Frau Fleming hatte ich das Gefühl, mir wären an den Schulterblättern Flügel gewachsen, aber ich trug sie als ängstlich gehütetes Geheimnis zusammengefaltet unter der Jacke, nie ganz sicher, daß sie nicht doch jemand entdecken würde. Merkwürdigerweise war es Vater, dem man Sensibilität nun weiß Gott nicht nachsagen konnte, der mich immer häufiger mit einem verkniffenen Zug um den Mund musterte: »Ich weiß nicht, Lina, aber der Bengel hat doch was... Der ist so anders als sonst...« »Was soll er schon haben?« sagte Mutter, »der Jung ist jetzt siebzehn, - da wissen die nicht, ob sie Haare oder Federn kriegen...«
    »Bei dem ist doch eine Schraube locker... Wenn ich in die Küche komme, steht er am Ausguß und putzt sich die Zähne! Dreimal am Tag...«
    Ich dachte auch nicht im Traum daran, mir einzubilden, eine Eroberung gemacht zu haben, und ich glaubte auch nicht, daß das Gefühl, das ich für Frau Fleming empfand, etwas mit Liebe zu tun hatte. Es entflammte mich, daß eine so schöne, kluge und faszinierende Frau an meiner Unterhaltung und Gesellschaft Gefallen zu finden schien. Andernfalls hätte sie ihre Einladung, sie wieder einmal zu besuchen, doch ganz gewiß nicht ausgesprochen. Die Pauker hatten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine vertrackte Art, einen spüren zu lassen, daß man in ihren Augen ein grasgrüner Bengel war. Äußerte man einen eigenen oder gar einen kritischen Gedanken, so bekam man - vor allem im deutschen Aufsatz - unweigerlich zu hören, daß man sich ans Thema zu halten habe. Das ärgerte mich einmal so sehr, daß ich es fast mit dem liebenswürdigen Dr. Hennig verdorben hätte, bei dem ich einen Stein im Brett hatte. Als er uns einen Klassenaufsatz über Schillers Distichon »In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling - still auf gerettetem Boot treibt in den Hafen der Greis« schreiben ließ, befaßte ich mich ausführlich mit dem schiffenden Jüngling und ließ den Greis mit der Bemerkung unter den Tisch fallen, daß ich kein Greis sei, kein Greis zu werden wünsche und infolgedessen über greisenhafte Zustände und Gefühle auch keine verbindlichen Aussagen machen könne. »Wenn Sie auf Quarta säßen, würde ich Ihnen das Heft um die Ohren schlagen!« sagte er zornbebend - aber er trug mir die Frechheit nicht allzu lange nach.
    Daß ich es fertigbrachte, eine ganze Woche vergehen zu lassen, ehe ich mich in der Dämmerung des späten Nachmittags auf den Weg

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