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Abschied und Wiedersehen

Abschied und Wiedersehen

Titel: Abschied und Wiedersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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Rumgeruch aus dem Mund des anderen nicht auch herb enttäuscht gewesen wäre. - Aber wenn einem von der Leinwand das große Auge von Otto Gebühr entgegenblitzte, oder wenn Paul Wegener als Blücher die Tabakspfeife in die Luft warf und den Säbel schwang, das ging durch und durch. - Ein Schauspieler von solchem Format zu werden, war wohl ein allzu kühner Traum. Aber man mußte ja nicht gleich nach den Sternen greifen. Es gab Dutzende von Darstellern mit kleinerem Namen, an deren Schauspielkunst ich mich in unserem kleinen Kino berauschte. Harry Liedtke, Bruno Kästner, Bernhard Goetzke, Alfred Abel und - Emil Jannings. Seinen >Stier von Olivera< sah ich mir dreimal hintereinander an! Wenn schon nicht Otto Gebühr, so konnte man doch Emil Jannings werden...
    Frau Fleming war nicht nur eine ungewöhnlich kluge Frau, sondern auch eine geduldige Zuhörerin. Es fiel ihr nie ein, den Enthusiasmus zu belächeln, mit dem ich ihr von der Handlung des Films berichtete, den ich gerade gesehen hatte, oder wenn ich sogar Szenen nachspielte, in Alfred Abels elegante Rollen schlüpfte oder als Fridericus gebeugt, aber ungebrochen, die Nachricht der Niederlage bei Kunersdorf entgegennahm. Daß ihr meine häufiger werdenden Besuche nicht lästig wurden und daß sie mich immer wieder ermutigte, den alten Herrschaften und ihr Gesellschaft zu leisten, lag wohl daran, daß sie nach der langen, mehr oder weniger erzwungenen Zurückgezogenheit eine Ansprache und etwas Leben um sich herum brauchte. Die alte Dame ließ einmal eine Bemerkung fallen, daß der blinde Mann ihrer Tochter Gertrud das Leben mit Eifersuchtsszenen nicht leicht gemacht habe. Es hörte sich an, als wolle sie sagen, er werde auch posthum gegen die Gesellschaft eines siebzehnjährigen Pennälers keine eifersüchtigen Einwände erheben. - Vielleicht aber zog sie mich auch deshalb zu sich heran, weil sie in meinen Zukunftsträumen Visionen wiederfand, denen sie in meinem Alter nachgehangen hatte, ihr musikalisches Talent auszubilden und sich in der Welt einen Platz als Konzertpianistin zu erobern.
    Wenn ich auch innerlich längst eingesehen haben mochte, daß ich den Kopf voller Rosinen hatte und daß an eine Verwirklichung solcher Pläne vorläufig überhaupt nicht zu denken war, so hätte ich auf Vaters zornigen Widerstand fraglos mit Sturheit reagiert und es auf einen Bruch ankommen lassen. Der sanften Tonart, mit der Frau Fleming argumentierte, konnte ich mich nicht verschließen. Daß ich die Schule aus tiefster Seele haßte, fand sie ganz natürlich; sie hatte sie auch nicht geliebt und verabscheute Zwang, woher er auch kommen mochte. Meine Theaterbesessenheit teilte sie in einem gewissen Grade. Um Post- oder Bahnbeamter zu werden, meinte sie, brauche man keine Begeisterung. Aber sie warnte mich auch davor, zu glauben, daß Begeisterung allein zu meinen Zielen führe. Sie meinte, daß alles, was auf der Bühne vor sich gehe, nicht von ungefähr zur Wirkung käme, sondern daß harte Arbeit dahinterstecke...
    Daran hatte ich nie gezweifelt.
    ... und daß der Erfolgszwang, unter dem ein Schauspieler Abend für Abend auf der Bühne stehe, wohl härter als alle Zwänge sei, unter denen ich zu leiden hatte...
    Ich ging ja nicht freiwillig zur Schule!
    »Natürlich nicht«, sagte sie und schenkte mir zum zweiten Mal Tee ein, »Sie sind ja auch nicht freiwillig auf die Welt gekommen. Aber da Sie nun einmal leben, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als aus Ihrem Leben das Beste zu machen. Und vor allem mit den Hindernissen fertigzuwerden, die sich Ihnen in den Weg stellen. Und bis jetzt ist doch alles ziemlich glatt gegangen, oder etwa nicht?« »Nun ja, einigermaßen...«
    »Die Mathematik...« sagte sie mit einem kleinen, eher heiteren Seufzer, »das ist natürlich eine schwere Hürde. Aber Sie müssen sie nehmen! Wenn Sie ihr ausweichen, verlieren Sie Ihr Selbstvertrauen und werden unweigerlich scheitern, wenn sich Ihnen neue Hindernisse in den Weg stellen. Bo Yin Ra sagt: Wirf dein Herz über die Hürde, dein Körper wird ihm nachfliegen.«
    Sie besaß ein Dutzend kleiner Broschüren, deren Verfasser sich Bo Yin Ra nannte, mit fernöstlicher Weisheit hausierte, aus Chemnitz oder Zwickau stammte und in Wirklichkeit Schneider oder Franke hieß. Aber das hätte nicht so gut wie Bo Yin Ra geklungen. Er war sehr in Mode und hatte eine große, meist weibliche Anhängerschaft. Wenn man jemand verkünden hörte, auch die längste Reise beginne mit dem ersten Schritt, dann

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