Abschied und Wiedersehen
Würfelzucker und eine halbgefüllte gläserne Keksdose auf den Tisch. Die alte Dame wünschte uns gute Unterhaltung und ließ uns allein. Der Zauberbann hielt an. Ich konnte mich aus ihm nicht lösen. Was geschah, empfand ich wie einen Traum.
»Vergessen Sie nicht, den Kamin zu füttern«, sagte sie; »die Tannenzapfen haben wir im Herbst gesammelt. Körbeweise. Ein halber Keller ist voll davon. Sie brauchen also nicht zu sparen.«
Ich zog den Korb in meine Nähe und warf ein Dutzend Zapfen auf die Glut. Sie gingen knisternd in Flammen auf. Ich fühlte mich, von einem fliegenden Teppich aus Tausendundeiner Nacht davongetragen, wie auf einem fremden Erdteil, in einem fernen, exotischen Land, Bali, Sumatra, unter den Palmen eines Südseeatolls. Es war die Gegenwart dieser Frau, die mich verzauberte. Das rabenschwarze Haar, vom Mittelscheitel auf die Stirn fallend und im Nacken zu einem Knoten aufgesteckt, umrahmte ein Gesicht mit großen, schwarzen Augen, über denen die dunklen Brauen wie Schwalbenflügel zu den Schläfen ausschwangen. Unter den rosig getönten Jochbögen sanken die Wangen leicht ein und füllten sich mit Schatten, wenn sie sich zum Feuer vorbeugte. Beim Lächeln entblößte sie zwei schimmernde Zahnreihen, und die goldene Tönung ihrer Haut schien noch die Bräune des Sommers zu bewahren. Ich war nicht sicher, ob sie im landläufigen Sinne schön sei. Es war etwas Fremdartiges, Dunkles, geheimnisvoll Exotisches an ihr, was meinen Atem flach machte. Sie schenkte den Tee in die Gläser und fragte, wie viele Zuckerstücke ich wünsche.
»Zwei Stücke, gnädige Frau, wenn ich bitten darf...« Der Tee war stark und heiß. Ich spürte erst jetzt, wie durchgefroren ich war. Vom Magen strömte eine angenehme Wärme durch den Körper. Das naßkalte Wetter war unangenehmer als der scharfe, trockene Frost, den die Winde aus Rußland sonst um diese Jahreszeit heranfegten. Ich warf neue Tannenzapfen auf die Glut. Frau Fleming setzte das Teeglas ab und streckte die Hände gegen das aufsprühende Feuer. Zwischen den Fingern glühte die Haut rötlich auf, und ich glaubte, das zarte Gerüst ihrer Handknochen weiß durchschimmern zu sehen.
»Ich habe einige Untugenden«, sagte sie, in den Anblick ihrer feuerumspielten Hände versunken, »eine davon ist meine Neugier. Früher war ich eigentlich nicht so neugierig. Vielleicht liegt es daran, daß ich nur noch selten unter Menschen komme, die meine Phantasie anregen...« Sie griff nach dem Schüreisen und schob die Glut zusammen. »Sind Sie eigentlich fromm?« fragte sie plötzlich.
»Wie kommen Sie darauf, gnädige Frau?« fragte ich ein wenig verblüfft, denn auf diese Frage war ich wahrhaftig nicht gefaßt gewesen.
»Damit haben Sie meine Frage eigentlich schon beantwortet«, sagte sie. »Mich hat das Buch ein wenig irritiert, in dem ich Sie am Grab Ihres Freundes blättern sah. Ich hielt es zunächst für eine Bibel. Aber dafür war es zu klein...«
»Nein, nein, damit hat es wirklich nichts zu tun.« »Sondern womit?« fragte sie ohne mich anzusehen. Sie wandte mir, als ich mit der Antwort zögerte, das Gesicht zu: »Womit also? Oder wollen Sie es mir nicht verraten?« »Die Leiden des jungen Werther...« sagte ich stockend. »Holen Sie das Buch aus Ihrer Manteltasche und werfen Sie es ins Feuer!« rief sie heftig.
»Ich verstehe Sie nicht...«
»Sie verstehen mich sehr gut!« sagte sie fast streng. »Sie sind siebzehn, nicht wahr? Siebzehneinhalb, gut, gut... Aber in diesem Alter ist das eine gefährliche Lektüre - eine lebensgefährliche Lektüre! Besonders, wenn man gewisse Schwierigkeiten hat. Und die haben Sie doch, nicht wahr? In der Schule klappt es nicht mit der Mathematik - das haben Sie mir erzählt. Und vielleicht haben Sie auch in anderen Zusammenhängen gemerkt, daß das Leben mit einem durchaus nicht so liebenswürdig umspringt, wie man es sich gern wünschen möchte...« Sie setzte das Teeglas an die Lippen und blinzelte mich über seinen Rand hinweg an, »oder haben Sie etwa mit Ihrem Mädchen Kummer?«
»Ich habe kein Mädchen! Und ich werde nie mehr eins haben.«
»Da scheinen Sie aber eine furchtbare Enttäuschung erlebt zu haben«, sagte sie ganz ernsthaft und ohne eine Spur von Ironie. »An wem lag es denn, daß die Sache auseinanderging? An ihr - oder an Ihnen?«
»Wohl mehr an mir...« murmelte ich verlegen und spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg.
»Und was haben Sie falsch gemacht?«
»Darüber möchte ich lieber nicht
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