Abschied und Wiedersehen
Leute auf, die es auch ohne Abitur und mit miserablen Schulzeugnissen zu Ehre und Ruhm gebracht hätten, Liebig, Fraunhofer... Aber leider lag der Trost mehr in ihrer angenehmen Stimme als in ihrer Argumentation. Wenn ich überhaupt eine Zukunft vor mir sah, dann lag sie weitab von Düngemitteln und Fleischextrakt oder von der Berechnung von Okularen und Kristallgittern...
»Wo dann?« fragte sie.
Ich träumte noch immer davon, Schauspieler oder - eine Etage tiefer - Journalist zu werden; ich hatte mich beim Bartensteiner Blatt erkundigt, dort hätten sie mich auch ohne Abitur als Volontär genommen. Aber das kam denn doch nur im Fall eines sehr tiefen Falles in Frage. - Im Augenblick lief in dem kleinen Kino in der Heilsberger Straße der Film >Fridericus rex< mit Otto Gebühr in der Hauptrolle. Unser Kantor Bolutus begleitete den Streifen auf dem Klavier, einem verstimmten Klimperkasten, dessen klirrende Saiten aber den Schlachtenlärm sehr wirkungsvoll wie Trommelwirbel untermalten. Eine Woge patriotischer Begeisterung ging durch die Stadt, die ihren Höhepunkt bei einem Besuch Hindenburgs auf dem Gut des Herrn von Kunheim fand. Die Bartensteiner Schulen rückten geschlossen an und jubelten dem greisen Helden von Tannenberg zu. Der alte Herr schritt mit seinen schwarzen Ledergamaschen die Front aus Kriegern, Schützen und Schulen steifbeinig ab, groß, massig und mit schwerem Gang, als trügen die Beine sein Gewicht nur mit Mühe. Mit drei Veteranen aus dem siebziger Krieg, den er als junger Leutnant mitgemacht hatte, wechselte er ein paar markige Worte. Ansprachen gab es nicht, denn er hatte sie sich verbeten.
In Darkehmen war kürzlich eine komische Geschichte passiert. Sein Besuch war dem Bürgermeister kurzfristig angemeldet worden. In aller Eile hatte er die Krieger-, Schützen- und Sängervereine, Innungen und Ehrenjungfrauen mobilisiert und auf dem Marktplatz versammelt, allen voran die Stadtväter und der Bürgermeister selber in feierlichem Gehrock und mit spiegelblankem Zylinder. Von brausenden Hurras begrüßt, hielt das Auto, der alte Herr stieg aus, und der Bürgermeister, den Zylinder in der Hand, trat vor und begann mit seiner Rede: »Hochverehrter Herr Generalfeldmarschall! Im Namen der Stadt, die Anno vierzehn als eine der ersten ostpreußischen Städte den Russeneinfall und die Schrecken des Krieges...« Es war Herbst. Ein kalter Windstoß fegte heran, und plötzlich fuhr Hindenburgs tiefe Stimme in die Rede: »Setzen Sie doch den Zylinder auf, Herr Bürgermeister!« - Der Bürgermeister, sichtlich verwirrt, hielt den hohen Hut mit beiden Händen krampfhaft fest, verbeugte sich zum zweiten Mal und begann auch zum zweiten Mal mit dem gleichen Text: »Im Namen der Stadt, die Anno vierzehn als eine der ersten...« Weiter kam er nicht, denn wieder unterbrach ihn die tiefe Stimme: »Nu setzen Sie schon den Zylinder auf, Herr Bürgermeister - bei dem Wind werden Sie sich ’nen Schnupfen holen.« - Der Bürgermeister erblaßte, aber was blieb ihm anderes übrig, als der Aufforderung des hohen Gastes nachzukommen. Er stülpte den Zylinder auf den Schädel, sprach noch einige Worte, kam bald ins Stottern und war nach wenigen Sätzen bereits bei einem etwas voreiligen Hoch angelangt, in das alle kräftig einfielen. Beim Verlassen der Stadt konnte es sich der Adjutant nicht verkneifen, den alten Herrn zu fragen, weshalb er den Bürgermeister in solche Verlegenheit gebracht habe. - »Sie wissen doch, wie schwer mir das Stehen fällt«, knurrte der Alte. Der Adjutant nickte höflich, ließ es sich aber anmerken, daß ihn die Antwort nicht ganz befriedigte. - »Na, haben Sie es denn nicht gemerkt?« sagte der alte Herr, »der Bürgermeister hatte doch seine Rede im Zylinder, und die reichte quer durch den Hut vom vorderen bis zum hinteren Schweißleder. Und das hätte ich nicht durchgestanden.«
Nun ja, es war gewiß erhebend, einen so großen Mann auf zehn Schritt Entfernung zu sehen, aber vielleicht war es gerade die Nähe, die eine ernüchternde Wirkung ausübte. Da stapfte ein alter, hölzerner Mann vorüber, von dem nichts Strahlendes ausging und von dem es hieß, daß er in seinem ganzen Leben außer Bibel und Exerzierreglement kein anderes Buch angefaßt habe. Und das sah man ihm auch ein bißchen an... Das führte nun wieder zu der Frage, ob man als Zeitgenosse des Großen Friedrich oder des Marschall Blücher bei einer nahen Begegnung von den Schnupftabakkrümeln in der Nase des einen und vom
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