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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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Goldfäden durchwoben. Am liebsten wäre er ins Haus gelaufen und hätte sich einen Farbfilm geschnappt, doch er wusste, dass er nicht wieder rauskommen würde.
      Inzwischen zählte er die noch verbliebenen Bilder, bereit aufzugeben. Die letzten waren Ausschuss, plumpes Zeug: die Fahrräder der Kinder, die Golftasche seines Vaters, der Grill. Er musste wiederkommen, wenn das Licht richtig war.
      Er drückte den Deckel aufs Objektiv. Weder die Golfschläger seines Vaters noch den Grillanzünder musste er auf die Liste setzen. Diese Sachen bekam er genauso sicher, wie er die breite Stirn seines Vaters und seine Zurückhaltung geerbt hatte, seinen Hang, die Stirn bei angestrengtem Nachdenken in Falten zu legen wie eine Bulldogge. Das Werkzeug unterzog er einer oberflächlichen Inspektion. Da war ein neuer Makita-Bohrer, ein guter Satz Steckschlüssel - Sachen, die sein Vater nur ungern im Müll sehen würde. Das höchste Lob seines Vaters für irgendetwas bestand in der Feststellung, er habe sein Geld wieder rausbekommen. Es war ein bitterer Scherz seiner Mutter, dass er den Olds gerade erst hatte herrichten lassen, als sie herausfanden, dass er krank war. «Sechshundertfünfzig Dollar», sagte sie immer entrüstet, als wäre es dem Autohändler misslungen, Henry zu heilen. In der Woche vor seiner ersten Operation hatte er den Olds ständig gefahren, und sie waren, geborgen im eleganten, beheizten Wageninnern, zu zweit durch die Winterlandschaft rings um Pittsburgh gebraust und hatten Städte besucht, von denen sie ein Leben lang gehört, die sie aber noch nie gesehen hatten. Coraopolis, McKees Rocks, Irwin, Zelienople. Eine Woche lang waren sie früh aufgestanden und in den Wagen gestiegen, hatten sich unterhalten oder auch nicht, voll getankt, die Windschutzscheibe sauber gemacht, hatten es die ganze Zeit gewusst. Diese Gespräche hätte Ken jetzt am liebsten gehört, die notwendigen Entscheidungen darüber, welche Straße sie fahren, bei welchem Restaurant sie halten sollten.
      Das Durcheinander auf der Bank verwirrte ihn wieder, es war zu viel zu verarbeiten, denn der unbenutzte Wagen seines Vaters ging ihm zusammen mit den Schachteln voller Schleifpapierscheiben und den Thunfischdosen voll Dachpappennägeln im Kopf herum, und alles purzelte unzusammenhängend, bedeutungslos durch sein Gedächtnis. Er wandte sich ab und trat zu dem Fenster, das auf den grauen See hinausging. Die Fensterbank war mit toten Fliegen gesprenkelt, von einer Staubschicht überzogen. Er stand da und achtete nicht darauf, starrte durch die trübe Scheibe. Als Kind war das hier sein liebster Aussichtspunkt gewesen, von dem aus er die anderen auf dem Steg beobachtet hatte, und jetzt hielt ihn dieselbe Heimlichtuerei, dasselbe Gefühl hier fest, etwas Wichtiges erspähen zu können, die nassen Planken und moosgrünen Pfähle und der Dunst über dem Wasser zu einem Bild erstarrt, das seinen Geist und Körper lähmte, als müsste er sich absolut konzentrieren, um dessen Botschaft zu übermitteln.
      Aus der Dachrinne fiel ein Wassertropfen, leuchtend wie ein Diamant. Ken blinzelte, und das Bild verschwand, seine Bedeutung verloren, als hätte es nie eine besessen. Weder der See noch der Regen waren ein Rätsel.
      Jedem stirbt irgendwann der Vater, dachte er. Das macht jeder durch.
      Bei ihren aufrichtigsten, gehässigsten Streitereien warf Lise ihm vor, gefühllos zu sein. Nicht kühl, sagte sie dann, bloß leer. Manchmal fragte sie sich, ob es in seinem Körper überhaupt eine Seele gab. Das war natürlich falsch, im weitesten Sinne (beim selben Streit warf sie ihm vor, überempfindlich zu sein wie ein Baby), aber manchmal entdeckte er an sich eine Zurückhaltung, einen gefühlsmäßigen Konservatismus, den er nicht mit seinem Vater in Verbindung brachte, dessen unerschütterliche Ruhe er anstrebte, sondern mit seiner Mutter, die angesichts einer Katastrophe zu einer starren Ordnung Zuflucht nahm und Listen aufstellte und abhakte, bis die Krise vorbei war.
      Er bemerkte bei sich die Flucht in feste Gewohnheiten und vertiefte sich bei Bedrohung in seine Arbeit.
      Er war nicht gefühllos, aber in seinem Privatleben behielt er seine Gefühle für sich.
      Es erstaunte ihn, dass er aufrichtig und zugleich ausweichend sein konnte, selbst wenn er bloß überlegte. Vermutlich gab es eine tiefere Ebene, eine Basis, die so egoistisch und schwach war, dass er Angst hatte, darüber nachzudenken.
      Im Grunde seines Herzens wusste

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