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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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jetzt besorgt, als hätte Sam alles vermasselt.
      «Geh», sagte seine Mutter, deutete mit seinem Game Boy auf die Treppe, und er ging mit verzerrtem Gesicht und vor Wut kochend los. Er stampfte die Treppe rauf, um ihr zu zeigen, wie gemein sie war.
      «Mach nicht so einen Krach auf der Treppe!», rief sie.
      Er hielt mitten im Schritt inne, setzte den Fuß absichtlich ganz behutsam auf und stieg die restlichen Stufen ruhig wie ein Roboter rauf. Erst als er oben angekommen und außer Sichtweite war, boxte er so ungestüm Löcher in die Luft, dass er das Gleichgewicht verlor. Er trat gegen Justins Kissen, das sich um seinen Knöchel wickelte, ging einen Schritt zurück und trat nochmal dagegen.
      «Putzt du dir die Zähne?», brüllte seine Mutter von unten.
      «Ja!», rief er, ging zum Waschbecken und ließ das Wasser laufen. Es stank, und die Zahnbürstenhalter sahen krass aus. Er nahm seine Zahnbürste, drückte einen grünen Klecks von Justins Crest drauf, vermied es, den Jungen im Spiegel anzusehen, und überlegte, ob sie Grandma fragen würde, ob er wirklich gegessen hatte, und was passieren würde, wenn sie die Wahrheit herausfand. Egal. Sein Vater würde ihn trotzdem in die Spielhalle gehen lassen.
      Jemand kam die Treppe rauf. Sam zögerte kurz, als dürfte er sich nicht die Zähne putzen, und machte dann weiter, sein Mund vom Schaum ringsum weiß wie bei einem Clown.
      Es war sein Vater, der Sams Game Boy in der Hand hielt. «Sam I Am», sagte er in einem müden Ton, den Sam kannte. Sein Vater hatte die Kamera um den Hals hängen, und Sam fragte sich, ob seine Mutter auch ihn unterbrochen hatte.
      «Mach, dass du fertig wirst», sagte sein Vater, und Sam spülte sich den Mund aus und spuckte alles ins Waschbecken. Sein Vater klappte den Toilettendeckel runter. «Setz dich.»
      Sein Vater lehnte sich mit dem Rücken an den Rand des Waschbeckens, die Arme unter der Kamera verschränkt, und Sam wusste, dass er still sein musste. Er betrachtete den Spiegel hinter seinem Vater, seinen Hinterkopf und die helle Zimmerdecke rings um die Lampe.
      «Verstehst du, warum sich deine Mutter über dich geärgert hat?»
      «Ja.»
      «Warum?»
      «Weil ich mir nicht die Zähne geputzt hab.»
      «Warum noch?»
      «Weil ich gesagt hab, ich hätte es getan.»
      «Weil du gelogen hast, deshalb hat sie sich geärgert. Begreifst du das?» Sein Vater drehte sich so, dass Sam ihn ansehen musste.
      «Ja.»
      «Warum hast du nicht die Wahrheit gesagt?»
      «Ich weiß nicht.»
      «Ist es dir zu mühsam, die Zähne zu putzen, oder hast du es bloß vergessen?»
      «Ich hab's bloß vergessen.»
      «Das hättest du einfach sagen sollen. Du hättest sagen sollen:
      «Ich wollte keinen Ärger kriegen.»
      Sein Vater schüttelte den Kopf. «Wenn du lügst, kriegst du immer Ärger, das solltest du inzwischen wissen.»
      Er lehnte sich wieder mit verschränkten Armen zurück und schwieg. Sam wusste, dass es am besten war zu warten.
      «Was meinst du, was wir jetzt tun sollen?», fragte sein Vater schließlich.
      «Ich weiß nicht.»
      «Ich hab deiner Mutter und Tante Margaret gesagt, dass ich später mit dir und Justin zur Videospielhalle fahre, und ich werde mein Versprechen halten. Aber fürs Erste nehm ich dir deinen Game Boy weg.» Er öffnete das Batteriefach und nahm die beiden AA-Batterien raus. «Die kannst du morgen zurückhaben. Und das nächste Mal, wenn einer von uns beiden dir eine Frage stellt, sagst du die Wahrheit.»
      «Ja, Sir», musste er sagen.
      «Okay.» Sein Vater stand auf und breitete die Arme aus, damit Sam ihn umarmen konnte, und das tat er auch, betrachtete sich im Spiegel, die Hände auf dem Rücken seines Vaters, die Wange an seinem weichen Hemd, und es war okay. Wenn seine Mutter nicht den Game Boy ausgeschaltet hätte, wäre alles in Ordnung gewesen. Sie fuhren trotzdem zur Spielhalle, das hatte er gewusst. Er hatte sowieso schon länger als eine Stunde gespielt, und sein Vater hatte nichts übers Frühstück gesagt, und Sam fand, dass er gewonnen hatte.
      Er hatte auch was gelernt. Ab jetzt musste er daran denken, sein Spiel nach jedem Kampf abzuspeichern.
     
     
* 8
     
    Emily schloss ihre Zimmertür, kramte die drei Listen aus ihrer Tasche und setzte sich seitlich auf die Bettkante, um alles durchzusehen. Sie legte die Listen vor sich auf die Decke, bemühte sich, sie nicht in einer

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