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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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Geisteskraft nachließ, ging es vermutlich schnell. Eines Tages würde Emily vorbeikommen, um sie abzuholen, und Arlene würde in ihrer Unterwäsche dasitzen und ihr Kühlschrank nach verdorbenem Hackfleisch und verfaultem Gemüse stinken. Oder Arlene würde vorbeischauen und Emily in diesem Zustand vorfinden.
      Die Fremdenführerin schwafelte weiter über Lautsprecher und versorgte sie mit wichtigen Daten und interessanten Informationen. Tonnen, Liter, Kilowatt - dieselbe triste Litanei, die Arlene ihren Kindern seit den fünfziger Jahren vorgetragen hatte, die ganze Pracht der Demokratie und des Fortschritts. Neunzehnhundertsoundso hatte ein gewisser Dingsda den Wasserfall als Erster von der amerikanischen zur kanadischen Seite auf einem Drahtseil überquert. Er brauchte soundso viele Minuten, und mittendrin war er stehen geblieben, um irgendetwas zu tun.
      «Absolut faszinierend», sagte Margaret, und Arlene lächelte zurück und dachte an ihr Gespräch in der Garage, an das dünne Band zwischen ihnen, eine aus Zigaretten gebaute Brücke.
      Sie hätte gern eine Tochter gehabt (ja, selbst Margaret, so schwierig sie auch sein mochte), doch das war kein Bedauern, sondern eher ein eitler Wunsch, unerfüllbar, nicht ernst gemeint. Die Zeit dafür war - wie so vieles in ihrem Leben - unbemerkt verstrichen.
      Die Fremdenführerin lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Steuerbordseite des Schiffes, bla-bla, bla-bla-bla.
      «Amüsierst du dich gut?», fragte Margaret.
      «Immer», erwiderte Arlene.
     
     
* 8
     
    Als sie zu nah an den Wasserfall kamen, dachte Justin, mit dem Ruder würde irgendwas nicht stimmen. Der Kapitän mit dem weißen Schnurrbart und der schicken Mütze könnte nicht steuern und die Strömung würde sie unter den Wasserfall ziehen. «Wir werden alle sterben!», würde er dann rufen.
      Die Leute würden schreiend von Bord springen, und dann würde das Wasser auf das Boot stürzen und es nach unten drücken, es würde in zwei Teile brechen, seine Mutter noch in der Kabine, und Justin wäre im Wasser, es wäre so kalt wie neulich im See, und jemand würde ihn an den Beinen packen und versuchen, ihn hinabzuziehen. Er würde um sich treten, bloß dass es auch Sarah sein könnte, also würde er aufhören. Überall lägen kaputte Bretter, aber die Rettungsringe würden wegtreiben, und alle würden hinterherschwimmen, und dann würden sie anfangen, sich im Kreis zu drehen, weil der Strudel sie unterWasser zog. Er wäre darin gefangen und würde Sarah auf der anderen Seite sehen, beide im Kreis rumgewirbelt. Sie müssten bloß zueinander gelangen und sich an den Händen halten, dann wären sie frei.
      «Komm», würde Sarah rufen, «du kannst es schaffen!», so wie sie ihn bei den Spielen anfeuerte (aber da schaffte er's nie, immerwurde er ausgemacht, was seine Mannschaftskameraden ihm übel nahmen), und diesmal würde er's schaffen, der Strudel würde aufhören, und sie wären unverletzt, sie wären in Sicherheit. Sein Vater würde alles im Fernsehen verfolgen und sie anrufen, um ihnen zu sagen, dass sie bei ihm bleiben könnten, sie würden zusammen auf die Beerdigung seiner Mutter gehen, zu beiden Seiten seines Vaters, und in derselben Limousine wegfahren.
      Seine Hände waren kalt, aber er ließ die Reling nicht los. Das Wasser war voll braunem Schaum. Er fragte sich, ob jemals Fische den Wasserfall runterstürzten und dabei ums Leben kamen. Als er aufblickte, prasselte Regen in sein Gesicht. Über ihnen kreiste ein Hubschrauber. Es war witzig, Justin konnte ihn gar nicht hören.
      «Und», fragte Onkel Ken, «jetzt, wo ihr beide gesehen habt, welcher gefällt euch besser?»
      «Der kanadische!», kam Sam ihm zuvor, und Justin musste seine Antwort nochmal ändern.
     
     
* 9
     
    «Ich muss aufs Klo», flüsterte Justin, krümmte sich und fasste sich mit der ganzen Hand in den Schritt, als könnte Meg sofort eine Herrentoilette hervorzaubern.
      «Das hättest du sagen sollen, als wir noch auf dem Boot waren. Ich glaube, hier unten gibt es kein Klo. Kannst du's noch halten, bis wir oben sind?»
      «Ich glaub schon.»
      «Der Aufzug muss jeden Moment kommen. Oben beim Eingang gibt's bestimmt eins.»
      Er hüpfte und trat von einem Fuß auf den anderen. Die Wassermassen waren nicht gerade hilfreich, aber sie wagte es nicht, einen Witz zu reißen. Laut Ken war er schon verlegen, weil er hingefallen war. Sie hatte die Augen verdreht, um Ken wissen zu lassen, dass es

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