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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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dann geschah, abfinden.
      Sie dachte an den Jungen in dem Kanu. Es musste ein Moment gekommen sein, als er begriff, dass er zu weit gefahren war, dass er über die Kante stürzen würde und nichts daran ändern konnte. Hatte er da einfach innegehalten und aufgegeben, oder hatte er so schnell gepaddelt wie möglich, obwohl er wusste, dass es nichts nützte? Aber spielte das irgendeine Rolle?
      Für ihn vielleicht, dachte sie. Doch nicht für den Wasserfall. Nicht für das Wasser.
     
     
* 7
     
    Als Arlene mit vierzehn ins Internat gekommen war, hatte ihre Großmutter McElheny sie aufgefordert, sich in einen der mit Schondeckchen ausgestatteten Sessel in ihrem strengen Salon zu setzen, wo zwischen den Gaslampen über dem Kaminsims das rosenwangige Gilbert Stuart-Porträt ihres Urgroßvaters auf sie herabgestarrt hatte. Hier, in diesem Zimmer, dessen Pracht als ansehnlich galt, enthüllte ihre Großmutter ihr das einzige Körnchen Weisheit, das ihre Reisen ihr vermittelt hatten: dass, ganz egal, wo auf der Welt man sich auch befand, man stets ein Buch dabeihaben sollte. Diese Maxime zitierte Arlene gern vor ihren Schülern, stolz, ihnen einen so zeitlosen Rat mit auf den Weg geben zu können, aber diesmal hatte sie selbst nicht daran gedacht und saß umringt von unruhigen Kindern und ihren müden Eltern da, nichts zu lesen außer einer Faltkarte der Wasserfälle, auf deren abgegriffenen Rand Werbung für grausige Wachsmuseen und Steak-mit-Ei-Flitterwochen-Brunches für einen Dollar neunundneunzig abgedruckt war.
      Warum jemand hier seine Hochzeit feiern sollte, leuchtete ihr nicht ein, und doch taten es Tausende. Als sie erfuhr, dass Henry mit Emily herfuhr, war sie neidisch gewesen, nicht so sehr wegen des Ortes, sondern wegen des Glücks, das er symbolisierte und das ihre Familie ihr bei jeder Gelegenheit verschaffen wollte, indem sie sie mit den erwachsenen Söhnen ihrer engsten Freunde zu verkuppeln versuchte, bis keiner mehr übrig war.
      «Was suchst du denn bloß?», hatte ihre Mutter sie einmal gefragt, und Arlene hatte aufrichtig erwidert: «Nichts.»
      Sie konnte nicht sagen, dass sie nichts bereute, aber wer in ihrem Alter konnte das schon? Sie hatte mehr Kinder gehabt als all ihre Freundinnen, war geliebt und geachtet, umschmeichelt und gefürchtet worden. Sie hatte Tausenden von jungen Leuten das Lesen und Denken beigebracht, und die hatten versucht, die Welt zu verändern und würden damit noch weitermachen, wenn sie schon längst Staub war. Sie erwartete nicht, dass ihre Schüler sie im Gedächtnis behielten, oft konnte auch sie sich nicht mehr an sie erinnern und musste in ihrem Album mit den Klassenfotos und Zeugnissen nachsehen, wenn sie in der Zeitung auf einen Namen stieß. Wenn sie herausfand, dass sie dem frisch angeklagten Bezirksstaatsanwaltjede Menge Häkchen verpasst hatte, weil er ihre Anweisungen nicht befolgte, war sie nicht überrascht. Die Richtung, die ein Leben später nahm, wurde oft schon früh festgelegt.
      Die von ihr getroffenen Entscheidungen bedauerte sie nicht. Sie hatte keinen Mann gebraucht, nicht einmal den, den sie wirklich geliebt hatte. Vielleicht war ihr zu bewusst, wie sehr andere sie beurteilten, wie leicht ihre Selbstgenügsamkeit als innere Leere missverstanden werden konnte, ihr Temperament als äußerliche Fröhlichkeit. Sie hatte gedacht, die Gesellschaft würde das Bild von der vertrockneten alten Jungfer im Laufe der Zeit aufgeben, und doch spürte sie jedes Mal, wenn sie mit einem Plastikkorb durch den Lebensmittelladen streifte oder mittags allein in einem Restaurant etwas aß, das unausgesprochene Mitleid, das ihr entgegengebracht wurde.
      Emily war rausgegangen, um den Blick zu genießen, und Arlene breitete sich auf der Bank aus. Sie hatte Lust auf eine Zigarette, doch in der Kabine war das Rauchen natürlich verboten, und sofort überlegte sie, wie lange die Fahrt noch dauerte, und rechnete dann die Fahrt mit dem Aufzug hinzu. Die meiste Zeit hatten sie irgendwo gewartet. Wenn sie nach Hause kamen, war schon Zeit fürs Abendessen, und morgen war bereits Donnerstag.
      Sie machte sich Sorgen darüber, dass ihr vergessenes Buch vielleicht ein Anzeichen für Gedächtnisschwäche war. Eine ihrer größten Befürchtungen war, dass sich ihre Geistesverfassung langsam verschlechterte und sie ihre Wohnung aufgeben und in ein Heim mit betreutem Wohnen ziehen musste. Das lag bestimmt noch in ferner Zukunft, doch sobald man merkte, dass die

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