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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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anstehen müssen, dass sie nicht mehr in die Höhlen gehen konnten. Ihr Vater entschuldigte sich bei allen, als wäre es seine Schuld - als wollten alle die Höhlen unbedingt sehen.
      Ella war es egal, ob sie mit der Maid of the Mist fuhren oder nicht, oder ob sie Niagara Falls sahen. Sarah und sie hätten wie gestern allein im Sommerhaus bleiben können, sie hätten Bier trinken und sich ihre Geheimnisse anvertrauen, auf dem zerwühlten Bett liegen und oben am Fenster nach den Autos ihrer Eltern Ausschau halten können, Sarahs Dose Altoids mit Zimtgeschmack neben sich. Sarah hätte es sich in ihren Shorts und ihrem Sweatshirt auf den Kissen gemütlich gemacht, ihre langen Beine überall gleichmäßig braun. Am liebsten hätte Ella die Hände über Sarahs harte Schienbeine gleiten lassen, mit der hohlen Hand ihre perfekten Waden umfasst. In drei Tagen - jetzt nur noch zweieinhalb - würden sie abreisen, und sie würde ihr verlassenes Viertel zurückkehren und auf den Schulanfang warten. Sarah würde achthundert Kilometer weit weg sein und auf eine neue High School gehen, selbst wenn sie mit Mark Schluss machte. Deshalb war es Ella egal. Es war alles bloß Zeitverschwendung.
      Der Aufzug blieb ruckartig stehen, und die Leute lachten, als wäre es witzig, wenn sie alle stürben, und einen Augenblick dachte Ella, Wenn das Boot sänke und sie sich entscheiden müsste, Wen sie retten würde, dann würde es, so Leid es ihr tat, Sarah sein. Sie würde sie auf die Felsen ziehen und beatmen, und wenn Sarah begriff, was Ella getan hatte, würden sie sich küssen. Es war wie ein Film in ihrem Kopf; es war richtig bescheuert. Das Boot würde nicht sinken. Sie würden nach Hause fahren, und nach einer Weile würde Sarah vergessen, ihre Briefe zu beantworten. Es war dasselbe wie im Ferienlager mit Laude Burgwin, nur dass sie bloß Freundinnen gewesen waren.
      Sie folgte Sam, spürte Sarah hinter sich und wusste, wie blöd sie in ihrem Poncho aussah.
      «Bleibt zusammen», sagte ihr Vater, obwohl sie die Letzten waren, die rausgingen, und man nur durch die Tür und den Betonweg zwischen den grünen Geländern entlanggehen konnte.
      Nachdem sie drinnen gewesen waren, kam ihr der Himmel heller vor, und es schien stärker zu regnen, aber vielleicht war es auch nur die Gischt, die ihre Brille beschlug, sodass sie blinzeln musste. Über ihnen hing ein Metallnetz, als wäre das Ganze ein Käfig, mit Steinen und nassem Papiermüll gesprenkelt. Auf der anderen Seite des Wassers stampfte der Wasserfall wie ein Motor. Das Boot hatte bereits angelegt, und die Leute stiegen aus. Vor den Felsen wirkte es kleiner, und die Möglichkeit, dass es sinken könnte, kam ihr plötzlich nicht mehr unwirklich vor.
      Als sie an den Touristen vorbeigingen, die völlig durchnässt, grinsend und ihre Ärmel auswringend von der Anlegestelle raufkamen, fiel der Weg steil ab. Ohne ersichtlichen Grund ärgerte sich Ella über diese Leute - weil sie nicht verliebt waren. Die meisten von ihnen waren zu alt, schon verheiratet oder Kinder, die noch zu klein waren. In gewisser Hinsicht hatten sie Glück - man konnte sie nicht verletzen. Sie machten sich nicht ständig Gedanken, ohne zu wissen, was sie tun sollten, und trotzdem wollte sie um keinen Preis mit ihnen tauschen. Sie konnte kaum glauben, dass sie mal so gewesen war, durchschnittlich und naiv, dass sie wie ein Zombie durch die Gegend gelaufen war, ohne eine Vorstellung, warum sie am Leben war. Es kam ihr vor, als wäre es schon ewig lange her, dabei war es erst letzte Woche gewesen. Sie konnte sich dieses Leben nicht mehr vorstellen, ohne Sarah. Es war, als würde sie über ihnen schweben, in eine andere Welt entrückt, wo alles mit ihr verbunden war und alles eine Bedeutung hatte - ihre Kleider, das Wetter, Songs im Radio. Selbst jetzt kam es ihr ein bisschen unwirklich vor.
      Sie hatte Glück, das wusste sie. Sie musste vorsichtig sein. Sie brauchte sich bloß zu Sarah umzudrehen, die Hand zu ihrem Gesicht zu führen und auf ihre kühle Wange zu legen, dann würde all das verschwinden. Aber Sarah wusste es - sie musste es wissen. Manchmal stellte Ella sich vor, ihre Gefühle müssten von ihr ausstrahlen wie eine Aura, ein leuchtendes Kraftfeld, unmöglich zu übersehen. Noch nie hatte sie ein so großes Geheimnis für sich behalten müssen. Sie konnte nicht mal ihre Mutter anlügen, wenn sie die Hausaufgaben nicht gemacht oder mittags nicht alles aufgegessen hatte.
      Sie drängten

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