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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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für Justin typisch war, aus der geringsten Kleinigkeit ein großes Drama zu machen, aber auch Ken war als Kind empfindlich gewesen und hatte versucht, durch Tränen die Aufmerksamkeit ihrer Mutter zu erregen.
      Sie hoffte, dass Justin irgendwann härter werden würde - das hatte sie ihm auch gesagt -, sonst würde er im Leben schwer zu ackern haben (diese ländliche Redewendung stammte direkt von ihrer inzwischen so städtischen Mutter, zu oft angewendet auf Megs eigene Zukunft), aber als sie Ken betrachtete und das, was aus ihm geworden war, dachte sie, sie müsse sich wohl daran gewöhnen, dass Justin ängstlich war und andere auf ihm herumhackten. Es gab Schlimmeres, als still und schüchtern zu sein. Das wusste sie, weiß Gott.
      «Hast du oben eine Toilette gesehen?», fragte sie Ken flüsternd. «Just muss aufs Klo.»
      «Tut mir Leid. Ist er denn im Restaurant nicht gegangen?»
      «Anscheinend nicht.»
      Die Aufzugtür öffnete sich, und sie stiegen ein. Meg hielt Justin zurück, damit sie als Erste aussteigen konnten. Sie behielt ihn vor sich, ihre Hände auf seinen Schultern, und schaute nach oben, als könnte sie sehen, wo sie hinfuhren. Als sie nach unten blickte, um zu sehen, wie es ihm ging, hob er das Gesicht und zog eine jämmerliche Grimasse.
      «Wir sind gleich da», versprach sie.
      Der Aufzug ruckelte, als hätte ihn ein Windstoß getroffen, wurde langsamer, blieb dann stehen und ließ sie einen Augenblick warten, bevor sich die Tür öffnete.
      Sie hatte vergessen, was für ein Durcheinander hier oben herrschte, feucht wie in einer U-Bahn-Station. Der Lärm verwirrte sie. Hunderte von Gesprächen aus der zickzackförmigen Schlange stiegen zu den offenen Dachbalken auf und wurden von dort zurückgeworfen. Bemüht, niemandem den Weg zu versperren, lief sie mit ihm durch die Menge und suchte die ganze Zeit an den Wänden nach einem Schild. Sie entdeckte erst die Damentoilette, das gesichtslose Mädchen in ihrem Sechzigerjahre-A-Linien-Kleid, und dann die Herrentoilette direkt dahinter.
      «Siehst du das?», fragte sie mit ausgestrecktem Finger, und er lief los und hätte fast ein kleines Kind umgerannt, dessen Mutter ihm zornig nachstarrte.
      Sarah und Ella waren direkt hinter ihm und nutzten ihre Chance. Ken ging mit den Übrigen zum Souvenirladen, und ihre Mutter winkte, um sicherzugehen, dass sie verstanden hatte.
      «Bis gleich», rief Meg winkend.
      Sie stellte sich zwischen der Herren- und Damentoilette auf und zündete sich eine Zigarette an. Ringsum warteten lauter junge Ehemänner in Shorts und Baseballkappen. Einer von ihnen bewachte einen Kinderwagen mit einer Handtasche drin.
      Der Betonboden war schmutzig, übersät mit weggeworfenen Prospekten und platt getretenen Pappbechern. Sie dachte an die Kellnerin beim Mittagessen, die gefragt hatte, ob sie etwas trinken wolle, und sog den Rauch tief in die Lunge.
      Es war ein perfekter Tag zum Trinken. Verregnet, nichts zu tun. An einem Tag wie diesem schaltete sie gern das Licht aus und zog den Telefonstecker raus, setzte sich mit einer Decke aufs Sofa, redete mit dem Fernseher, und nach ein, zwei Schlucken hatte sie das Gefühl, die Probleme aller Leute zu verstehen (und das Traurige war, dass alle besser dran waren als sie). Ein Glas Scotch, ein Glas Wasser. Nicht viel, geradeso viel wie nötig. Zuerst eine angenehme Klarheit, dann der alles einhüllende Nebel, ihr Gehirn so gesättigt wie die Wolken draußen, der Fernseher unermüdlich, ihr das eigene Leben zeigend, der Rest des Zimmers völlig reglos wie sie, nur ihre Hand hob langsam ein Glas, stellte es wieder ab und nahm das andere, der Haufen Zigarettenstummel in ihrem Lieblingsaschenbecher wuchs, alles aufgeräumt, wenn Sarahs Bus quietschend am Fuß der Einfahrt hielt, und dann die Hölle, wenn sie das Abendessen machte, sich darauf vorbereitete, Jeffs Fragen zu beantworten oder sein Schweigen zu ertragen, schon vom nächsten Tag träumte, wo das Haus wieder ihr gehören würde, eine träge, gewohnheitsmäßige Welt mit ihren tröstlichen, wohl überlegten Ritualen.
      Genau dieses destruktive Verhalten versuchte sie zu ändern. Sie durfte es nicht vermissen. Vermutlich tat sie das auch nicht, aber manchmal dachte sie wie jetzt mit einer Art Sehnsucht daran, ihre verschwommenen Tage ein schmerzfreier, verlockender Kokon.
      Sie vermisste Jeff, und sie hasste Jeff, dann war es vielleicht dasselbe. Sie hasste sich für das, was sie getan

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