Abschied von Chautauqua

sich am Eingang und warteten, bis die letzten Passagiere an Land kamen. Sarah hatte die Hände auf den Zaun gelegt und betrachtete den Wasserfall. Ella stellte sich neben sie und sah den Delphinring, den Mark ihr geschenkt hatte, der Beweis, dass Ella sich etwas vormachte, und einen Augenblick machten ihre Hoffnungen sie hilflos. Ihr Vater hatte seine kleine Kamera rausgeholt und spielte den großen Fotografen. Drei Tage reichten nicht.
      «Es heißt, dass sich schon Leute in einem Fass den Wasserfall heruntergestürzt haben», erzählte Grandma Sam und Justin gerade. «Als ich noch klein war, hat sich einmal ein Junge in eurem Alter beim Kanufahren verirrt und ist, bloß mit einem Paddel, heruntergestürzt. Die Maid of the Mist hier hat ihn herausgefischt. Er ist der einzige Mensch, der das überlebt hat. Stellt euch vor, so etwas müsstet ihr euren Eltern erklären.»
      «Was ist mit dem Kanu passiert?», fragte Justin.
      «Wen interessiert das schon?», sagte Sam.
      «Ich glaube, es ist auf den Felsen zerschellt.»
      «Wieso ist er nicht umgekommen?», fragte Justin.
      «Ja, das ist die Frage, nicht wahr? Es ist ein Rätsel. Leute in speziell entworfenen Fässern sind gestorben, und dieser kleine Junge, der bloß ein Paddel dabei hatte und die Kleider, die er am Leib trug, hat überlebt.»
      «Wir sollten im Ripley's Museum danach fragen», sagte Tante Margaret. «Wetten, dass sie was darüber dahaben?»
      «Das ist eine gute Idee», stimmte Grandma zu.
      «Ach du meine Fresse», flüsterte Sarah so leise, dass nur Ella es hören konnte, und das reichte, um sie weiterträumen zu lassen. In letzter Zeit war es erstaunlich leicht, sie in die eine oder die andere Richtung zu lenken. Das Schlimme war, dass sie nichts dagegen tun konnte. Es war, als würde sie von einer starken Macht kontrolliert, aber manchmal gefiel es ihr auch.
      Endlich durften sie aufs Boot, und alle mussten eine orange Schwimmweste tragen, die vorn zugeschnallt wurde. Sie konnte kaum glauben, wie blöd sie aussah. Man konnte sich drinnen hinsetzen oder draußen stehen, und die Kabine füllte sich rasch. Es war heiß und roch nach nassen Socken. In der Mitte gab es noch ein paar freie Plätze, von wo man nichts sehen konnte, und da setzten sich ihre Mutter, Grandma, Tante Arlene und Tante Margaret hin. Sam und Justin wollten draußen stehen, also ging ihr Vater mit ihnen raus. Ella glaubte, dass es in der Kabine angenehmer sein würde, aber Sarah zog ihre Kapuzenschnüre fest, band unterm Kinn eine Schleife und führte sie raus in den Wind.
      Das Deck war nass, das Schaukeln des Bootes erschwerte das Gehen. Sie hielt die Arme seitlich ausgestreckt. Justin war hingefallen, seine Jeans war nass. Ihr Vater hockte sich hin, um ihn zu trösten, und hielt seine Hand. Sie und Sarah fanden ein Fleckchen am Bug, abseits von den anderen, aneinander gedrängt, um sich zu wärmen, und das machte Ella glücklich. Während sie den Wasserfall betrachtete, konnte sie so tun, als wären sie allein, als wäre es ein romantisches Erlebnis.
      Der Wind zerrte an ihrer Kapuze, von ihrem Kinn tropfte Regen. Im Wasser schwamm Abfall, Pepsi-Dosen und graue Zeitungen. Die ganze Reling entlang hingen weiße Rettungsringe mit der Aufschrift MAID OF THE MIST, und Ella fragte sich, wie oft sie benutzt werden mussten. Sie hatte gehört, dass sich Leute auf diese Art umgebracht hatten, dass sie auf Goat Island alle Kleider ausgezogen hatten und in den Fluss rausgeschwommen waren. wo die Strömung sie über die Kante spülte. Sie versuchte sich vorzustellen, wie der Blick von der Kante wohl war, statt Wasser plötzlich Luft, weit unten das winzige Boot, der Lärm.
      Bevor sie ablegten, drang aus der Sprechanlage eine Frauenstimme, die sie bat, sich die folgenden Sicherheitshinweise bitte genau anzuhören. Die Frau sagte ihren auswendig gelernten Text teilnahmslos auf, wie das Personal an den Achterbahnen in Nantasket Beach. Ella konnte sich nichts Langweiligeres vorstellen, den ganzen Tag bloß im Kreis rumfahren, immer am selben Ort.
      Und plötzlich lag Sarahs Hand wie zur Herausforderung auf der Reling, daraufwartend, dass Ellas Hände sie bedeckten, und ihr Gesicht, dem ständigen Tosen zugewandt, war bereit für Ellas Lippen. Sie sah es in Zeitlupe ablaufen, wie einen Unfall, wie den Traum, den sie gehabt hatte. Aber es konnte kein Unfall sein, es war kein Traum. Sie musste es selbst tun, musste es riskieren und sich mit dem, was