Abschied von Chautauqua
»
«Keine Ahnung. Keine sechs Dollar, wetten?»
«Kann ich's haben?»
«Du musst der Zahnfee einen Schuldschein ausschreiben.»
«Mach ich.»
«In Ordnung.» Sein Vater zog einen Dollar aus der Tasche.
Seine Mutter kam. «Ich dachte, wir hätten uns auf fünf Dollar geeinigt», sagte sie, und Sam hatte Angst, sie könnte ihm das Teleskop wegnehmen.
«Ich hab gesagt, er kann sein Zahngeld benutzen.»
«Das war nett von dir.»
«Ich weiß.»
«Du hast einen sehr netten Vater», sagte seine Mutter, «ich hoffe, das ist dir klar. Was sagt man?»
«Danke.»
«Bedank dich nicht bei mir», sagte sie. «Bei ihm.»
* 11
Auf dem Platz, wo es immer noch nieselte, der Beton schlammig braun, ließ Emily ein letztes Mal den Blick schweifen. Wasserpfützen standen auf der Steinmauer, als wäre es Tidenwasser. Kenneth wartete auf sie und die anderen gingen weiter in Richtung Parkplatz.
Sie machte ihnen keinen Vorwurf. Es war ein trüber Tag, in Wahrheit war sie froh, mal einen Augenblick für sich zu haben. Kenneth hielt respektvoll Abstand, als würde sie mit einem Unsichtbaren sprechen. Nur die Teleskope für einen Vierteldollar mit ihren riesigen Chromrahmen leisteten ihr Gesellschaft. Selbst die Reisebusse standen mit laufendem Motor am Randstein, um loszufahren, das Innere schwach erleuchtet, die Fernseher über den Sitzen eingeschaltet.
Auf der anderen Seite der Schlucht toste der Wasserfall schäumend über die Kante, von tagelangem Regen genährt. Sie starrte zu dem endlosen Sturz der weißen Säule, dem Werk zahlloser Jahrhunderte hinüber. Achtundvierzig Jahre waren nicht besonders lang, nur ein Blinzeln im Strom der Zeit. Die Jahre waren so schnell verstrichen - dachte sie zumindest, während sie dastand -, dass sie immer noch versuchte, damit Schritt zu halten, daraus schlau zu werden wie bei einem Unfall, alles noch einmal in Zeitlupe ablaufen zu lassen, um zu begreifen, was passiert war, als könnte das etwas daran ändern, wie sie sich fühlte.
Nachts hatte es bunte Lichter gegeben, der Wasserfall in eine riesige Leinwand verwandelt, auf die man Figuren projizierte - Raketen, Sterne und Planeten -, und danach ein Feuerwerk.
Sie konnte sich daran erinnern, wie Henry mit ihr zu einem Steakessen mit Aussicht gegangen war und die Kellnerin ihnen Champagner gebracht und gefragt hatte, ob sie ihren Ring mal sehen dürfe (sie war bloß auf ein Trinkgeld aus gewesen, hatte bestimmt schon Tausende von Ringen gesehen, Tausende von jungen Paaren, die dachten, die Zukunft würde sie glücklich machen, bloß weil sie verliebt waren). Sie erinnerte sich, wie sie beide einen glänzenden Penny über die Mauer geworfen und sich Glück gewünscht hatten und wie ihr dann ein Windstoß beinahe den Hut vom Kopf geweht hätte und Henry lachend gesagt hatte, fast hätte es geklappt. Sie wusste, dass ihr auf der Rückfahrt noch mehr einfallen würde, und doch ließ ihr das Gefühl keine Ruhe, dass noch etwas unerledigt, eine Erwartung noch nicht erfüllt war. Hier fühlte sie sich Henry nicht näher - war höchstens weiter entfernt -, und sie fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, einfach zu Hause zu bleiben und sich mit der Gegenwart auseinander zu setzen, statt die Vergangenheit aufzuwühlen.
Sie drehte ihren Ring am Finger, betrachtete die rissige Haut darunter, die Altersflecke in der Farbe im Kühlschrank verdorbener Pilze, als wäre sie am Verfaulen. Jahrelang hatte Henry gewitzelt, dass er zuerst sterben würde, weil er ein Mann war, und jahrelang hatte sie erwidert: «Wag das bloß nicht.» Beide hatten es ernst gemeint. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie den Ring vom Finger streifen und über die Mauer werfen sollte - eine extravagante Protestgeste, die sie beruhigen sollte -, doch dann schob sie den Stein mit der anderen Hand wieder an seinen Platz. Sie würde ihn mit ins Grab nehmen. Aber auch das war dumm.
Der Regen wurde stärker, trommelte auf ihren Schirm, und plötzlich stand Kenneth neben ihr und fragte, ob sie bereit sei.
«Klar», sagte sie, musste sich aber losreißen.
Es ließ sich nicht vermeiden, dass sie in Pfützen traten, und an der Straße verpassten sie das Fußgängersignal. Es herrschte dichter Verkehr, zur Abendbrotzeit flüchteten alle. Bei all dem Lärm konnte sie kaum das Wasser hören. Als sie zurückblickte, hing eine Dunstglocke über dem Wasserfall, und es war nichts zu erkennen.
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